Mittwoch, 22. Februar 2017

Unter uns gesagt

„Sag mal, Johanna, hast du auch manchmal das Gefühl, dass du beobachtet wirst?“, fragt Margret und sieht sich um.
„Beobachtet? Von wem denn?“
„Ja, wenn ich das wüsste, ich habe oft das Gefühl, dass ich nicht allein bin“, Margret.
„Wie, nicht allein? In deiner Wohnung? Das kann doch nicht sein, so groß sind unsere Wohnungen doch nicht.“ Johanna sieht deutlich verwirrt aus.
„Nicht nur, auch vor dem Aufzug. Ich dreh‘ mich vorsichtig um, aber nichts zu sehen. Trotzdem so ein blödes Gefühl.“ Margret.
Johanna betrachtet Margret, eine Nachbarin, mit der sie sehr vertraut ist, skeptisch:
„Ich wohne doch auf dem gleichen Flur wie du, ich bemerke nichts davon.“ Auch bei näherer Betrachtung findet sie, dass Margret ganz wie immer aussieht. Nicht verwirrt oder sonst wie anders.
„Du denkst wohl, ich spinne“, fragt Margret jetzt ängstlich. Bereut wohl schon, dass sie davon angefangen hat.
„Nein, nein, was denkst du denn, irgendwas muss dich ja stören. Lass uns doch gleich gemeinsam rauffahren, dann kann ich darauf achten, ob mir was auffällt.“
Das findet Margret nett von Johanna und so gehen sie schweigend den Gang entlang vom Speiseraum zu den Aufzügen. Sie sprechen nicht mehr miteinander, damit sie aufmerksamer auf ihre Umgebung achten können. Nichts.
Im Aufzug dann:
„Und, Johanna, spürst du es auch?“
„Was denn?“
„Als wäre außer uns beiden noch eine dritte Person hier drin, natürlich unsichtbar.“
Johanna spürt nichts. Wie unsensibel. Vielleich liegt es an ihr, dabei ist doch eigentlich Margret die Handfeste, die Praktische. Im Aufzug ist nichts Ungewöhnliches, das einzig Technische ist die Lüftung. Und natürlich die Bedienungsknöpfe. Und das Mikrofon, verbunden mit einem Lautsprecher, falls mal was passiert im Aufzug.
Sie steigen auf der dritten Etage aus und gehen gemeinsam den Flur entlang.
„Ich bringe dich noch zu deiner Tür, Margret“, sagt Johanna und sie gehen zusammen bis zum Ende des Flurs. Margrets Wohnung ist die letzte. Das Haus hat eine gestaffelte Fassade, so dass auch Wohnungen und Flure gestaffelt sind. Hinter jeder Ecke könnte jemand stehen, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Man könnte ihn oder sie erst im letzten Moment sehen. Arme Margret. Diese Lage am Ende scheint sie einzuschüchtern. Margret schließt auf:
„Tschüss Johanna, und danke.“


Nachmittags um drei das wöchentliche Kaffeestündchen. Reihum in den Wohnungen, das Zusammensein in der Halle ist doch etwas zu öffentlich. Hat jemand etwas Neues? Erst einmal nicht, also small talk.
Dann rafft sich Margret zu einem Geständnis auch den andern gegenüber auf:
„Ich hab es heute Mittag schon Johanna erzählt: Ich fühle mich beobachtet.“
Wie aus einem Mund: „Von wem?“
Johanna übernimmt die Antwort:
„Sie kann nichts Konkretes sagen, es ist so ein Gefühl. Ihr kennt das doch auch: Man steht irgendwo, dreht sich um ohne einen Grund und stellt fest, da starrt einen einer an.“
Ja, das kennen alle, können es sich nicht erklären und hatten auch noch nie eine Erklärung dafür gehört oder gelesen.
„Und außerdem lauert ja überall die NSA“, Susanne will es spaßig sehen.
„Das betrifft aber doch nur die mit den Geräten“, meint Johanna ernsthaft und geht auf diese Variante ein. Mit den Geräten meint sie wohl die PCs und Smartphones. „Soviel ich weiß, lehnt ihr dieses Teufelszeug doch ab.“
Sie guckt forschend in die Runde, blickt in betretene Gesichter. Anscheinend hat das Teufelszeug doch Einzug gehalten.
„Es muss ja nicht nur die NSA sein, es gibt Hacker genug, die sich für Informationen interessieren“, meint nun Irmtraud, die den Besitz eines Laptops längst zugegeben hat. Und weiter:
„In den letzten Tagen habe ich des Öfteren erlebt, dass mein Internet Explorer einfach aussetzte, ohne dass ich eine Taste berührt hatte.“
„Das sagen alle“, meint Susanne, „das ist doch nur eine Entschuldigung vor sich selbst, wenn man mal wieder was falsch gemacht hat.“ Sie lacht. Ein bisschen hämisch?
Was Irmtraud erbost: „Von wegen, es ist mir mehrfach passiert. Wie früher eine Unterbrechung am Telefon, wenn sich jemand einschaltete, um mitzuhören.“ Irmtraud hatte einen eifersüchtigen Ehemann gehabt.
„Machst du denn Sachen am PC, die andere interessieren könnten?“ fragt Margret, sie sieht eine Verbündete. Die Gefahr lauert eben überall.
„Ja, ehrlich gesagt, mache ich immer noch Online-Banking, und ich kaufe auch schon mal Sachen …“
„Da bist du ja das ideale Opfer. Die klauen deine Daten und kaufen unter deinem Namen und lassen von deinem Konto abbuchen.“ Margret guckt ganz mitleidig.
„Ich habe keinen Computer und ich habe auch nichts zu verbergen“, brüstet sich jetzt Johanna.
„Und was ist mit dem Smartphone, das du dir kürzlich angeschafft hast?“, fragt Susanne, die immer alles weiß. Woher eigentlich?
„Smartphones sollen ja noch viel anfälliger fürs Abhören sein. Dazu habe ich kürzlich einen Bericht im Fernsehen gesehen. Ich glaube, man hackt sich über W-LAN ein und kann mithören, was im Raum gesprochen wird.“ Irmtraud ist wie immer gut informiert und möchte von ihren Gefährdungen ablenken, man soll sie schließlich nicht für blöd halten.
Banges Schweigen.
„Ist das wahr?“, Margret, ein wenig aufgeregt. Hatte auch sie heimlich ein solches Teil gekauft? „Sag mal, Susanne, du hast doch einen guten Bekannten in der IT-Branche, der könnte doch sicher was zu den Aussetzern von Irmtraud sagen.“ Margret.
„Aber“, sagt Irmtraud, die gern die Gesprächsführung hat, „wir sind ganz von Margrets Gefühl des Beobachtetwerdens abgekommen.“
Niemand meldet sich mit einem ähnlichen Gefühl, nur Susanne fragt Margret ganz süffisant: „Du hast wohl was zu verbergen und ein schlechtes Gewissen.?“ Was zu einem peinlichen Schweigen führt.
Johanna, die seit heute Vormittag über Margrets Problem nachgedacht hat:
„Es ist doch nie geklärt worden, was es mit dem Elektrosmog auf sich hat, vielleicht entwickeln sich da Felder, die sensible Personen wahrnehmen können?“
„Und wie ist das mit den Erdstrahlen? Dafür empfängliche Menschen berichten darüber“, Irmtraud.
Es entwickelt sich eine lebhafte Diskussion, man hatte mehr oder weniger oft an esoterischen oder esoterisch angehauchten Seminaren teilgenommen; man war geschult im Wahrnehmen außersinnlicher Phänomene. Gut, es hatte nicht immer geklappt, aber man hatte Berichte gehört … Schön, dass Margret von ihren Empfindungen erzählt hat. So kann man endlich wieder von den Erfahrungen erzählen, die man selbst gemacht hat.

„Früher gab es doch Fragebögen, mit denen die Geschäftsführung abfragte, wie es uns geht und wie uns das Leben hier im Haus gefällt. Wollen die das nicht mehr wissen oder erfahren die das jetzt auf andere Weise?“ Ein neuer Verdacht, geäußert von Susanne, die eine lebhafte Fantasie hat und die Ergebnisse gern mitteilt.
„Abhören?`“
„Belauschen, was in den Aufzügen gesprochen wird?“
„Über die Smartphones?“
„Zumindest das, was in der Halle geäußert wird, bekommen die mit.“
„Und auch, was man sich im Großen Salon erzählt.“
„Und beim Kaffeetrinken in der Cafeteria.“
„Im Speisesaal beim Mittagstisch.“
„Ja, stimmt, da hängen doch überall solche Geräte.“
„Sind das Kameras?“
„Oder Mikrofone?“
Irmtraud lacht schallend: „Lautsprecher!“
Das müssen sie zugeben, Durchsagen zu Veranstaltungen im Haus hört man aus diesen unförmigen Geräten.
„Aber wo was rauskommt, kann auch was reingehen“, meint Margret und macht eine Schnute. Sie hatte die Diskussion angefangen und will sie auch am Laufen halten. „Denkt doch an die Anlage im Aufzug, sprechen und hören.“ Verdammt, ja, das stimmt.
Susanne ist vollkommen verstummt, seit die Sprache darauf gekommen ist, dass sie einen IT-Spezialisten kennt. Sie ist intelligent genug um zu begreifen, dass sie das verdächtig macht. Bisher war noch keine der Damen darauf gekommen, aber wer weiß?
Johanna hat nachgedacht und meint nun: „Das Einzige, was wir selber tun können, ist doch, die Smartphones auszuschalten.“
„Aber, liebe Johanna, das ist doch der Sinn eines solchen Teils, dass man erreichbar ist.“ Irmtraud.
„Na ja, ich habe immer noch mein Festnetztelefon, damit telefoniere ich und darüber werde ich angerufen.“ Johanna holt ihr Smartphone aus der Tasche, schaltet es aus und legt es entschlossen auf den Tisch: „Du spionierst mich nicht mehr aus!“
Margret tut desgleichen, Irmtraud auch, wenn auch mit Verzögerung. Susanne?
Susanne hat keins, sie ist sparsam. Geizig, hieß es von ihr hinter vorgehaltener Hand. Sie hat noch ein ganz altes Handy, mit dem man telefonieren kann und sonst nix. Auch ein Rat ihres IT-Freundes, die Dinger speichern nicht.
„Und übrigens, ausschalten nützt gar nichts, da müsst ihr schon den Akku raus nehmen“, sagt jetzt Susanne, sachkundig.
Allgemeines Kopfschütteln und die Frage:
„Wieso denn das???“
„Das weiß ich leider auch nicht, mein IT-Freund hat das mal erwähnt,“ rutscht es ihr raus.
„Übrigens, auch die Telekom ist mit im Komplott, ihr Lieben. Über die Vorratsdatenspeicherung brauchen wir uns wohl nicht zu unterhalten, unsere Telefonate und E-Mails sind definitiv langweilig für andere. Aber, ist euch nicht auch schon aufgefallen, dass sich immer dann, wenn man die Wohnung betritt, die Sprach-Box meldet und entgangene Anrufe bekannt gibt? Woher wissen die von der Telekom, dass wir die Wohnung betreten haben“, Margret ist in ihrem Element. Bespitzelung überall.
„Da hast du Recht, Margret, gestern Mittag kam ich vom Arzt, schließe auf und schon ruft die Nummer 08003302424 an. Und drei Stunden später, ich komme vom Einkaufen, das Gleiche. Und das alles nicht zum ersten Mal.“ Susanne.
„Wie kann man das wohl klären?“ Margret.
„Nur an der obersten Stelle. Eine von uns schreibt an den Vorstandvorsitzenden der Telekom und bittet um Erklärung. Ganz höflich natürlich.“ Irmtraud. Und an ihr wird es wohl auch hängen bleiben.

Die vorgesehenen zwei Stunden für den wöchentlichen Austausch sind vorüber. Tief befriedigt vom Austausch und von der Darstellung der eigenen Erfahrungen auf allen möglichen Gebieten geht man nach Hause. Das heißt, man begibt sich auf die entsprechende Etage, mit dem Aufzug. Schweigend.