Freitag, 27. Oktober 2017

Das ist mein Platz

Wie beschämend ist es, wenn man mit diesen Worten von einem Platz verwiesen wird. Dazu hat Sophie Lange uns eine Geschichte geschrieben.


Gerangel beim Stuhlkreis in der Kita. „Das ist mein Platz“, verteidigen Kinder ihren Lieblingsplatz, direkt neben der besten Freundin oder dem liebsten Freund. Erst ein Spiel bringt etwas Ruhe unter die Kleinen. Die Erzieherin stellt einen leeren Stuhl in die Runde. Das Kind links davon klopft nun auf den Sitz und sagt: Mein rechter Stuhl ist leer, ich wünsche mir...her. Und nennt einen Namen. Das genannte Kind wechselt nun den Platz. Nicht immer gerne. Die Spielregel sagt, dass es wie ein Tier kommen kann, z. B. ein Elefant, ein Känguru oder eine Schlange. Das erleichtert etwas den Platzwechsel. 
Bei der Einschulung dürfen die Kinder sich ihren Platz zwar aussuchen – natürlich neben einem Kind, das sie bereits kennen - aber schon bald ändert die Lehrperson die Sitzordnung, eben so wie sie es für sinnvoller hält. Gar nicht so einfach, seinen Platz selbst zu bestimmen und zu verteidigen, in der Schule, im Beruf, in der Familie, im Leben.
Der Mensch hat seit Urzeiten um seinen Platz gekämpft. Das fing wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt an, als die Menschen feststellten, dass sie Samen in die Erde streuen konnten und neue Früchte heranwuchsen. Nun brauchten sie nicht mehr als Nomaden durch die Weltgeschichte umherzuziehen. Sie wurden sesshaft, suchten sich ein fruchtbares Stück Land auf Mutter Erde aus, Zaun drum herum und: Das ist mein Platz. Wehe, wenn jemand die Grenze überschritt. Dann wurden die Fäuste geschwungen, es gab Streit, Nachbarschaftsstreit
Aber zurück zum Stuhlkreis. Allerdings nicht mehr in die Kita, sondern in die Seniorenstunde im Pfarrheim. Hier hat auch jeder seinen festen Platz und wehe, wenn ein anderer, etwa ein Neuling, sich erdreistet, diesen Platz einzunehmen. Das gibt Zoff in der Bude. Da wackeln die Bilder an den Wänden. „Das ist mein Platz und mein Nebenmann ist und bleibt mein Nebenmann“, pocht eine „Alteingesessene“ mit hochrotem Kopf  und dröhnender Stimme auf ihr Recht. Das ist zwar kein gesetzlich-verbrieftes Recht aber ein Gewohnheitsrecht und das zählt gewohnheitsgemäß doppelt und dreifach.
Nun kann die Gruppenleiterin nicht wie bei den Kleinen zum Spiel aufrufen „mein rechter Platz ist leer,“ - wir sind doch hier nicht im Kindergarten! – sondern appelliert an die Vernunft, die sich ja in einem gewissen Alter einstellt oder zumindest einstellen sollte. Mit etwas Diplomatie ist auch bald Ruhe im Karton, vielmehr im Kreis und friedlich-fröhlich singend beginnt die Seniorenstunde mit dem alten Volkslied:

Wir sitzen so traulich beisammen
und haben einander sooo lieb, ja so lieb.
Wir erheitern einander das Leben,
ach wenn es doch immer so blieb.


Freitag, 20. Oktober 2017

Kastanien in der Hosentasche

Es ist Herbst und hier ist eine weitere Herbstgeschichte
von Sophie Lange

„Hast du etwas verloren?“ Marlies zuckt zusammen. Von hinten hat Susanne sie angesprochen.
„Hast du mich erschreckt.“ Marlies schießt giftige Blicke auf die Ruhestörerin. „Musst du dich immer so anschleichen?“
„Du schaust so gebannt auf die Erde“, entschuldigt sich Susanne und fuchtelt beschwichtigend mit ihrem Gehstock. „Suchst du den Tag von gestern?“
„Mensch, ich suche Kastanien“, erklärt Marlies, noch immer etwas verärgert.
„Da liegen ja hier unter der alten ausladenden Rosskastanie massenhaft 'rum“, schaut Susanne nun auch auf den Boden, und stochert mit ihrer Gehhilfe in einen angewehten Haufen Laub. Es raschelt, es staubt, es riecht nach Erde, nach modriger Herbsterde. Und jede Menge Kastanien werden sichtbar: Manche niedlich-klein wie eine Stachelbeere, andere in der Größe einer Sauerkirsche oder einer Cocktailtomate. Besonders schön sieht eine Frucht aus, die noch halb in ihrer Schale ruht. Ein harter Kern in einer harten stacheligen Hülle!
„Die wird meinen Herbsttisch schmücken,“ greift Marlies mit einer Behändigkeit zu, die man ihr in ihrem Alter gar nicht zugetraut hätte. „Jetzt  brauche ich aber noch ganz schöne, glänzende,“ fährt sie fort.
„Und was willst du damit?“ Susanne ist wie immer neugierig, oder - wie sie es nennt - wissbegierig.
„Die stecke ich in meine Hosen- und Manteltasche, wenn du es genau wissen willst“ macht Marlies kein Geheimnis aus ihrer Suchaktion.  
„Und was soll der Schwachsinn?“ Susanne schüttelt den Kopf.
„Hast du noch nie gehört, dass Kastanien vor Rheuma und Gicht schützen?“ Marlies lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Susanne lacht. „So 'nen Humbug glaubst du doch nicht wirklich!“
Nun sieht Marlies sich genötigt, Aufklärungsarbeit zu leisten. So doziert sie: „Die Rosskastanie ist schon seit dem Mittelalter wegen ihrer heilenden Wirkung bekannt. Die Rinde gilt volkstümlich als Fiebermittel. Und bei Krampfadern werden Kastanien seit jeher eingesetzt.“
„Ja gut, das mag ja stimmen“, rudert Susanne den „Humbug“ etwas zurück, „aber dass Kastanien Heilkräfte entwickeln, nur, wenn man sie in der Hosentasche mit sich rumschleppt - das glaube ich nicht.“ Nach kurzer Gedankenpause muss sie dann jedoch zugeben: „Aber der Glaube soll ja bekanntlich Berge versetzen.“ Und da sie schon einmal dabei ist, zitiert sie gleich ein anderes Bibelwort: „Wer glaubt, wird selig.“ Dabei fällt ihr ein, dass ihre Oma immer sagte: „Wer glaubt wird selig, wer backt wird mehlig.“ Die Erinnerung lässt sie herzhaft lachen.
Marlies findet das gar nicht lustig und erklärt ernst: „In der Hosentasche entwickelt die Kastanie wohltuende Wärme, die Gelenkschmerzen lindert. Außerdem kann man die runde Frucht mit der glatten Oberfläche als „Handschmeichler“ nutzen und in der geschlossenen Hand hin und her drehen. Das beruhigt.“
Marlies bückt sich – mühsam – hebt eine wohl geformte tiefbraune Kastanie auf, reibt sie sorgfältig am Jackenärmel bis sie glänzt wie eine polierte Zauberkugel, betrachtet sie gedankenverloren einige Sekunden lang und steckt sie dann in die Hosentasche.
„Wenn sie nicht helfen“, sagt sie nachdenklich, „so bergen Kastanien in der Hosentasche zumindest keine Risiken und Nebenwirkungen.“
Das überzeugt Susanne und nun sucht sie ebenfalls einige Herbstfrüchte und lässt diese in die Jackentasche verschwinden. Heimlich, verschämt.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Wenn die Kraniche ziehen


Der Lärm kommt näher. Ein Riesenspektakel. Die Großeltern sind mit ihren Enkeln Hannes und Felix auf einem Spaziergang unterwegs. Oma hält sich die Ohren zu. „Oh Gott, das himmlische Strafgericht. Das kommt doch von oben mit Pauken und Trompeten.“ Sie blinzelt in die grelle Sonne. Weiße Gestalten segeln durch die Luft. „Oh Gott, Engel, jede Menge Engel“, kreischt Oma. 
„Nun lass Gott aus dem Spiel und die Engel auch“, beruhigt Opa. „Das sind Kraniche, Hollergänse sagen wir hier in der Eifel dazu. Sie fliehen vor der Kälte in den warmen Süden.“
„Woher wissen die Vögel denn den Weg?“, will der 10jährige Hannes wissen. „Da oben stehen doch keine Wegweiser.“
Der Opa erklärt gerne: „Hauptsächlich orientieren sie sich an unterirdischen Magnetlinien. Dann beobachten sie aber auch den Sternenhimmel mit dem Polarstern sowie die Sonnenauf- und untergänge. Außerdem merken sie sich Gebirgszüge, die in Nord-Südrichtung verlaufen. Und dann ist da noch der Heimatinstinkt, der schon manchem Tier den Weg nach Hause finden ließ.“ Die Kinder nicken. Solche Geschichten haben sie schon über Hunde und Katzen gehört. 
„Und wieso hat der Mensch nicht so einen Instinkt?“, wundert sich der kleine Felix.
„Eine gute Frage“, antwortet Opa. „Vielleicht hat der Neandertaler noch instinktiv zu seiner Höhle zurückgefunden. Heute braucht der Mensch Landkarten, Straßenkarten, Routenpläne und Navigationsgeräte, um sich zurecht zu finden.“
Felix weiß aber auch: „Mama hat ein Navi im Auto und verfährt sich trotzdem immer.“ Das will nun niemand kommentieren. 
Oma weiß etwas aus ihrer Kindheit zu berichten. „Wir haben den Vögeln immer zugerufen: Krunekrane, wisse Fahne! Es sieht doch tatsächlich so aus, als wenn zig Fahnen im Wind wehen.“ Den Ruf probieren die Kinder nun gleich aus. Sie winken den Reisenden der Lüfte zu: „Krunekrane, wisse Fahne, Krunekrane, wisse Fahne...“
Und Oma fällt mit ein: „Krunekrane wisse Fahne...“ 
„Anfang Oktober ist eigentlich noch zu früh für den Kranichzug,“ überlegt Opa. „Nach altem Wetterglauben zeigt das einen frühen und strengen Winter an. Die eigentliche Flugzeit setzt man zwischen den 20. Oktober und den 10. November fest. Aber Kraniche haben ihr spezielles Timing.“ Oma kennt eine andere Wetterregel: „Man soll beim ersten Kranichflug die Vögel zählen. Ihre Anzahl sagt voraus, wie viele Sonnentage der Herbst bringt.“

 Das ist nun ein Stichwort für die Kinder. Sie laufen dem Zug hinterher. „Eins, zwei, drei“, zählen sie die keilförmige Spitze. „Vier, fünf...“ geht es dann die grade Linie weiter. Doch sie sind kaum bei 15 angekommen, als Leben in den bisher ruhigen Zug kommt. Einige Vögel lösen sich vom Ende, überholen links – wie sich das gehört – und drängen sich rücksichtslos irgendwo vorne dazwischen. Das lassen die „Betroffenen“ sich nicht gefallen. Wildes Gewusel und aufgeregtes Gezeter!
„Jetzt sind wir durcheinander gekommen“, ärgern sich die Kinder.
„Schade!“ bedauert die Oma. „Jetzt wissen wir nicht, wie der Herbst wird.“
„Zumindest ist aber schon der kommende Winter geklärt“, erinnert Opa. 
Aber das will jetzt noch niemand so genau wissen.
von Sophie Lange