von Brigitte Thion, als Gast
Vor
drei Jahren habe ich mich von meinem Mann getrennt. Eigentlich wusste ich lange
vorher, dass meine Ehe am Ende war. Mein Ehemann war in den letzten Jahren nur
noch feindselig und respektlos mir gegenüber gewesen. Ich dagegen hatte mit
allen Mitteln versucht, die Beziehung zu retten, schenkte ihm trotz seiner
Gemeinheiten sehr viel Aufmerksamkeit und überredete ihn zur Paartherapie. Es
änderte sich nichts und eines Tages fand ich heraus, dass er bereits seit
etlichen Jahren eine Geliebte hatte. Ich warf ihn aus meinem Leben und unserem
gemeinsamen Haus. Seitdem hatte ich keinen Mut und keine Lust mehr gehabt,
einen neuen Mann kennen zu lernen, und lebte allein. Ab und zu kam meine
erwachsene Tochter Valentina am Wochenende zu Besuch. Wir waren wie beste
Freundinnen. Leider wohnte sie 300 Kilometer entfernt. Hin und wieder passte
ich auf ihren aus Rumänien stammenden, ehemaligen Straßenhund Candy auf.
Manchmal hatte ich Candy länger bei mir. Das genoss ich dann sehr.
Insgesamt arrangierte ich mich ganz gut mit dem Alleinleben, jedoch kam immer
wieder ein Gefühl der Einsamkeit auf. Mir fehlten die Aufmerksamkeit und die
Zärtlichkeit eines Mannes. Auf den Tipp meiner Tochter hin, meldete ich mich
deshalb bei einer Online-Partnerbörse an. Ich bekam schnell viele Zuschriften
und hatte schon bald meine ersten Dates.
Die meisten Männer traf ich jedoch nur einmal, da bereits bei der ersten
Verabredung klar wurde, dass es zwischen uns nicht funkte. Außerdem gab es
einige Kandidaten, die nur das eine wollten. So hatte ich mir die Partnersuche
nicht vorgestellt. Fast hatte ich aufgegeben, weil ich niemand Passendes
gefunden hatte. Doch dann meldete sich Rainer. Schon seine erste
Kontaktaufnahme unterschied sich in positiver Weise von denen der anderen
Männer. Die meisten schrieben nur folgende Sätze: „Hallo Gerda, dein Profilfoto
gefällt mir. Schreib mir doch zurück. Wir sollten uns treffen.“
Rainer dagegen gab sich mehr Mühe und war charmanter:
„Liebe Gerda, dein Lächeln auf deinem Profilfoto hat mich sofort verzaubert.
Eine so wunderschöne Frau wie dich habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich würde
mir wünschen, dein Lächeln jeden Tag live zu erleben. Ich bin dein ewiger
Bewunderer.“
Ich antwortete ihm sofort. So nette Worte hatte ich kein einziges Mal in meiner
Ehe zu hören bekommen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Diesen Mann wollte ich
unbedingt kennenlernen.
Wir verabredeten uns für das nächste Wochenende in einem Café in meiner
Heimatstadt. Als ich ankam, wartete er bereits auf mich. Ich war etwas
überrascht, da sein Aussehen nicht ganz seinem Profilfoto entsprach,
wahrscheinlich war dieses bereits einige Jahre alt. Er war dicker und seine
Haare schütterer und grauer als auf dem Foto.
Da ich mich schon einmal auf den Weg gemacht hatte, entschied ich mich, ihn
kennenlernen zu wollen. Er dagegen schien von meinem Anblick ganz beeindruckt
zu sein. Er machte mir sofort schöne Komplimente: „Du siehst noch viel besser
und viel jünger aus als auf dem Profilfoto. Du bist schöner als in meinem
Traum. Ich bin begeistert. Vielleicht habe ich ein bisschen Glück und ich
gefalle dir auch?“ Ich war geschmeichelt, deshalb ließ ich seine Frage
unbeantwortet.
Wir verbrachten einen schönen gemeinsamen Nachmittag. Für ihn war es
selbstverständlich, dass er alles bezahlte. Im nächsten Blumenladen kaufte er
mir einen Riesenstrauß der schönsten Rosen. Sie waren zweifarbig, weiß und
orange, wie ich sie liebte. Im Anschluss gingen wir noch im Park spazieren und
er ließ mich wissen, dass er mich unbedingt wiedersehen wollte.
Das taten wir auch, nicht nur einmal. Er brachte mir zu jedem Treffen einen
schönen Rosenstrauß mit und lud mich in die feinsten Restaurants ein. Ich war
sehr beeindruckt. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Auch charakterlich schien
es sehr gut zu passen. Unsere Gespräche waren interessant und tiefgründig. Er
brachte mich außerdem zum Lachen. Sein Humor war nicht nur einfach, sondern
feinsinnig. Das war mir bei einem Mann immer schon sehr wichtig gewesen.
Er besuchte mich, oder ich besuchte ihn in den kommenden Wochen.
Er wohnte 60 Km entfernt in einer ländlichen Umgebung. Sein Haus war
freistehend im Stil der sechziger Jahre. Außen wie innen. Massive Holzmöbel und
braun und orange Töne an den Wänden und Textilien herrschten vor.
Bei meinem ersten Besuch schlug er mir eine Hausführung vor. Im Obergeschoss
befand sich das Schlafzimmer mit schweren Eichenmöbeln, das Doppelbett und der
Kleiderschrank waren hellblau lackiert.
Das Badezimmer war grün gefliest, ein kleines Arbeitszimmer befand sich unter
der Dachschräge.
Im Wohnzimmer im Erdgeschoss stand ein massiver brauner Kamin und ein großes mit
Cord bezogenes orangefarbenes Sofa. Die Küche war klein und rustikal. Ganz
besonders stolz war Rainer auf sein Spielzimmer im Keller, in dem ein Billardtisch
und ein großer blauer Metallschrank standen, es war ein Koloss eines Schrankes.
„Was bewahrst du denn hier auf?“ fragte ich ihn.
„Das ist mein Waffenschrank. Ich sammle Gewehre.“
„Gewehre? Echte Gewehre? Darf man das denn überhaupt?“
„Ich ja, ich habe eine Sondererlaubnis.“ Das kam mir eigenartig vor.
In diesem Haus mit den Waffen hätte ich nicht leben wollen. Als hätte er meine
Gedanken gelesen, sagte Rainer von sich aus: „Ich bin nicht ortsgebunden. Ich
kann auch woanders wohnen.“
Ich war beruhigt. Denn auch die Gegend gefiel mir nicht. Wenn das Haus die
einzige Macke von Rainer wäre, könnte ich mich damit abfinden, sofern er denn
bereit war zu mir zu ziehen, sagte ich mir.
Mein Haus war fast das genaue Gegenteil von seinem, es war hell eingerichtet,
mit weißem Holz und zeitgemäß. Es wirkte gemütlich und zugleich modern. Meine
Tochter hatte mir bei der Einrichtung meines schönen weißen Hauses geholfen. Es
war ebenfalls ein freistehendes Haus. Die nächsten Nachbarn lebten etwa 50 m
entfernt. So konnte ich meinem Hobby der Opernmusik nachgehen und ohne jemanden
zu stören, die Opernarien laut mitsingen.
Nicht nur für mich, sondern auch für einen Partner hatte ich auf 120
Quadratmetern genug Platz. Da Rainer bereit war, zu mir zu ziehen, stand
unserer Beziehung nichts im Wege.
Er ging rücksichtsvoll mit mir um und war in keiner Weise plump. Er schien es
wirklich ernst mit mir zu meinen, denn es war nicht seine Absicht, mich schnell
ins Bett zu bekommen. Nein, er ging behutsam und achtsam vor. Nach ein paar
Wochen entschlossen wir uns doch, unsere erste gemeinsame Nacht miteinander zu
verbringen. „Nicht bei mir, nicht bei dir, es soll etwas ganz Besonderes sein“,
schlug Rainer vor. „Wir gehen in ein schönes Hotel.“
Er holte mich mit seinem flotten Cabrio zuhause ab. Mit einem roten Seidenschal
verband er meine Augen. Ich sollte nicht sehen, wo es hingehen würde. Es sollte
eine Überraschung werden. Dann fuhren wir los.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir am Zielort an. Noch durfte ich die Augenbinde
nicht lösen. Mit seiner Hilfe stieg ich aus dem Cabrio und er nahm er mir den
Seidenschal ab. Vor mir erblickte ich ein Schloss. Ich glaubte zu träumen. Es
war das Hotel Schlosshof, das teuerste Hotel in unserer Umgebung. Nach einem
romantischen Essen im Schlossrestaurant verbrachten wir eine wunderschöne Nacht
miteinander und mir wurde klar, dass wir seelisch und auch körperlich perfekt
zusammenpassten.
Ich war vollkommen glücklich.
Jetzt behandelte er mich noch mehr wie eine Königin. Zu unserem einmonatigen
Jubiläum schenkte er mir Collier, sündhaft teuer, aus hochwertigem Weißgold mit
Brillanten und einem strahlenden Saphir, als Zeichen seiner Liebe. Ich war mir
sicher, endlich das Glück gefunden zu haben.
Bei
meinen Freundinnen und meiner Tochter Valentina schwärmte ich von Rainer in
höchsten Tönen. Daher wollte meine Tochter ihn unbedingt persönlich
kennenlernen. Sie wollte wissen, wer ihre Mutter so glücklich machte. Am
nächsten Wochenende sollte es so weit sein.
Rainer hatte nichts dagegen, im Gegenteil war er sehr angetan von dieser Idee
und er lud uns beide in ein schickes Restaurant ein. Ich war mir sicher, dass
Valentina meine Begeisterung verstehen könnte und sie ihn auch akzeptieren
würde.
Aber der Abend verlief völlig anders, als wir es uns vorgestellt hatten.
Bereits bei der Begrüßung fiel mir auf, dass Rainer ihr gegenüber sehr
reserviert, unhöflich, fast feindselig war. An Valentina konnte es nicht
liegen, da sie wirklich nett zu ihm war. Doch er bezeichnete sie als „Feindin“
oder er sagte: „Der Feind hört mit“, wenn sie zu uns ins Wohnzimmer kam. Doch
noch konnten meine Tochter und ich das als Scherz ansehen.
Später, beim Essen im Restaurant fing er an, Valentinas Job als Lehrerin
schlechtzumachen. Lehrer sind faul und überbezahlt, sagte er. Außerdem haben
sie ständig Ferien und auch an Samstagen und Sonntagen frei. Das müsste
geändert werden. Er als ehemaliger Unternehmer hätte rund um die Uhr arbeiten
müssen.
Anfangs versuchten Valentina und auch ich, seine bissigen Kommentare zu überhören
und ihn zu bremsen, jedoch schien ihn das noch mehr anzustacheln. Mittlerweile
hatte Valentina es aufgegeben, sich zu verteidigen. Er hörte doch nicht zu,
wenn wir etwas erzählten. Von seiner eigenen Tochter schwärmte er in höchsten
Tönen, dabei hatte sie keinen Beruf, arbeitete nicht und war daher mit ihren zweiundvierzig
Jahren finanziell von ihm abhängig. Aber da sie sein Lieblingskind war, war das
für ihn vollkommen in Ordnung. Wir versuchten, das Gespräch auf andere Themen
zu lenken, doch das ging nicht. Stattdessen zeigte er auf seinem Handy Bilder
von Prominenten, die er alle kannte. Doch damit konnte er weder bei meiner
Tochter noch bei mir Eindruck schinden. Diese angeberische Seite kannte ich
nicht von Rainer. Was sollte das? Meine Tochter interessierten die sogenannten
Fußballstars oder Trainer absolut nicht. Für dieses Gespräch an diesem Abend
waren diese Personen auch völlig unwichtig.
Meine Tochter versuchte zu erzählen, dass sie sich für Naturschutz und
besonders Tierschutz einsetzte. Besonders schlimm fand sie das Vorgehen in
einigen Ländern, Straßenhunde einzufangen und zu töten. Doch Rainer schien ganz
anderer Meinung zu sein. Sie kosteten nur Geld, außerdem würden sie Krankheiten
übertragen. Auf unsere Einwände, dass man die Zahl der Straßenhunde langfristig
durch Kastration reduzieren könnte und man sie sicherlich nicht töten dürfte,
reagierte er nicht. Für ihn war klar, dass die Menschen und deren Interessen
wichtiger seien als das Leben von Tieren.
Es interessierte ihn auch nicht, dass Valentinas Hündin Candy ein rumänischer
Straßenhund war, dabei hatte er sich zuvor so tierlieb gegeben und bei Besuchen
von Candy hatte er sie liebevoll gestreichelt und für sie Leckerlis
mitgebracht.
Er fragte meine Tochter, was sie denn machen würde, wenn sie ein Fest zuhause
plane, da würde sie doch sicherlich auch vorher ihr Haus säubern. Damit
begründete er die Massentötungen von Hunden vor Fußballweltmeisterschaften und
Olympischen Spielen in einigen Ländern. Außerdem könne man einen Frauenmörder verstehen,
der den Frauen den Hals umdrehe, er habe sicherlich gute Gründe dafür.
Valentina und ich sahen uns betroffen an. Was wollte er damit sagen?
Dann wurde er Valentina gegenüber noch seltsamer und beleidigte sie nun
persönlich. „Gib doch zu, dass du faul bist, sonst wärest du nicht Lehrerin
geworden.“
Da Rainer sehr laut wurde, erregten seine Kommentare auch an den Nachbartischen
Entsetzen. Ich fragte Rainer noch mal, ob er das denn ernst meine, was er von
sich gab.
„Was denn sonst?“ entgegnete er in einem aggressiven Ton.
Ich war schockiert und konnte es nicht fassen. War das wirklich derselbe Mann,
mit dem ich die letzten so wunderbaren Wochen verbracht hatte? Von dem ich
geglaubt hatte, endlich den Mann meiner Träume gefunden zu haben? Eine tiefe
Enttäuschung erfasste mich.
Ich stammelte: „Rainer, wenn du das wirklich denkst, was du sagst, dann ist es
vorbei mit uns.“
Er schaute nur empört. Valentina und ich sahen uns entsetzt an und wir
verließen fluchtartig das Lokal. Ich
schrieb ihm sofort eine Nachricht. „Lieber Rainer, ich befürchte, am heutigen
Abend hat sich herausgestellt, dass wir in unseren Ansichten nicht
zusammenpassen. Darüber bin ich sehr traurig, aber es ist besser, wenn wir uns
nicht mehr treffen.“Als wir zuhause angekommen waren, waren bereits zwanzig Nachrichten von Rainer
auf meinem Anrufbeantworter und auf meinem Handy eingegangen. Alle hatten im
Prinzip den gleichen Inhalt: Ich habe ihn nicht verdient und er verfluche mich.
Er habe jetzt gesehen, dass ich zu meiner Tochter hielt, statt zu ihm, meinem
geliebten Mann. Er beschimpfte mich in den Nachrichten auf das Übelste, die
Bezeichnungen „Schlampe“ und „Hure“ waren noch die harmlosesten. Valentina wollte die Polizei rufen, da sie sich Sorgen um mich machte und
morgen wieder abreisen musste. Ich beruhigte sie, Rainer wäre jetzt nur
aufgebracht, doch er würde das sicherlich morgen wieder anders sehen, bestimmt
würde er mir nichts tun. „Bellende Hunde beißen nicht, das sagt man doch so.
Ich glaube, Rainer gehört zu der Sorte.“Ich
zog den Stecker von meinem Telefon raus und schaltete das Handy aus, weil es
weiterhin unaufhörlich klingelte.Trotzdem schliefen wir in dieser Nacht sehr unruhig. Nach dem Frühstück, bei
dem wir den gestrigen Abend noch einmal diskutierten, wunderten wir uns noch
immer und konnten es nicht verstehen. Es war wie ein böser Traum. Besorgt ließ
mich Valentina in meinem Haus zurück. „Mama, ruf mich und die Polizei sofort
an, wenn etwas ist.“ Sie befürchtete, dass Rainer mir auflauern könne. Ich
solle die Straße genau beobachten, bevor ich nach draußen ginge. Ich versprach
es ihr.
Jetzt
war von Rainer weit und breit nichts zu sehen. Auch gingen keine Anrufe mehr
auf meinem Telefon ein. Enttäuschung über das jähe Ende unserer Beziehung und
Rainers Verhalten und Erleichterung darüber, dass er mich in Ruhe ließ und ich
mich nicht vor ihm fürchten müsste, wechselten sich ab. Ich empfand aber auch
Wut darüber, dass er sich so gegenüber meiner Tochter verhalten und solch
fürchterliche Ansichten vertreten hatte. Auch in den nächsten Wochen hörte und
sah ich nichts von Rainer. Die Zeit verging und ich dachte immer weniger an
ihn.
Manchmal
kam jedoch der Gedanke auf, dass alles sehr eigenartig gelaufen war. Würde sich
Rainer wirklich so zufriedengeben? Würde er mich einfach so gehen lassen?
Eigentlich konnte ich es nicht glauben.
Doch bald machte ich mir auch darüber keine Gedanken mehr. Rainer war einfach
vom Erdboden verschwunden, zumindest für mich. Vielleicht hatte er seine
nächste Traumfrau schon im Internet gefunden. Meine Vorsicht ließ ich daher von
Tag zu Tag immer stärker außer Acht.
Ungefähr
einen Monat später kam für zwei Tage ein guter Freund von früher zu Besuch. Er
war auf der Durchreise und wollte zu seiner neuen Freundin, die im Norden
wohnte. Fröhlich und mit freundschaftlichen Küssen verabschiedeten wir uns vor
meinem Haus.
Am Abend saß ich wie immer um dieselbe Uhrzeit vor dem Fernseher und schaute
einen Krimi. Ich hatte es mir richtig gemütlich gemacht, ein Glas Rotwein und
eine Duftkerze standen auf dem Couchtisch. Plötzlich hörte ich ein
Motorengeräusch. Wer kam um diese Uhrzeit hierher? Es klang, als hätte ein Auto
direkt in meiner Einfahrt gehalten. Ich erwartete niemanden. War es Valentina,
die spontan vorbeigekommen war und mich überraschen wollte? Nein, sie hatte
keine Ferien, morgen musste sie arbeiten. Jetzt war es schon neun Uhr abends.
Ich wurde nervös, mein Herz pochte mir bis zum Hals. Ich ging in den Hausflur.
Ein grelles Licht blendete mich. Durch die Haustür strahlte ein heller
Schweinwerfer. Der Motor wurde ausgeschaltet, doch das Licht blieb an, die
Autotür schlug zu, jemand war wohl aus dem Wagen ausgestiegen.
Ich hatte
panische Angst. Ich lief die Treppe hoch in mein Schlafzimmer, wo ich mein
Telefon liegengelassen hatte. Aus dem verdunkelten Zimmer schaute ich
vorsichtig aus dem Fenster die Einfahrt herunter. Unten an der Ecke erblickte
ich Rainers Cabrio. Er selbst war jedoch nicht zu sehen. Mir wurde ganz anders
zu Mute, wo war er und was wollte er? Da hörte ich plötzlich einen lauten
Knall. Ich erschrak mich fast zu Tode. Was war das? Es hatte sich angehört wie
das Klirren von Glas. Ich erstarrte, aber trotzdem schaffte ich es irgendwie,
nach meinem Telefon zu greifen und die Polizei anzurufen. Ich traute mich nicht
mehr, aus dem Fenster zu schauen, und ich kauerte mich in die Ecke hinter den
Vorhang. Würde Rainer hochkommen und mich umbringen? Tatsächlich hörte ich
dumpfe Schritte auf der Treppe. Ich hielt die Luft an. Jemand betrat mein
Schlafzimmer. Das Licht ging an.
„Gerda, komm raus. Ich weiß, dass du da bist!“ Es war Rainer. Ich war mir
sicher, dass er mich finden und mich töten würde. Seine Schritte näherten sich
dem Vorhang, im nächsten Moment würde er mich dahinter entdecken. Doch dann
waren von Ferne Sirenen zu hören. Rainer verließ hastig das Zimmer. Er lief die
Treppe herunter. Die Haustür schlug zu.
Ich atmete auf, schaute zum Fenster hinaus und sah wie er in sein Cabrio
sprang und in Windeseile davonfuhr.
Er war weg. Ich konnte es nicht fassen. Nur
wenige Minuten später war die Polizei da. Es stellte sich heraus, dass Rainer
mein Wohnzimmerfenster zerschossen hatte. Er hatte genau in die Richtung
geschossen, wo ich jeden Abend um diese Uhrzeit vor dem Fernseher saß. Wäre ich
nicht hochgerannt, wäre ich jetzt tot.
Rainer wurde angezeigt, sein Gerichtsverfahren steht ihm noch bevor. Ich
befürchte, dass er lediglich eine Bewährungsstrafe erhalten wird. Die Auflage,
sich mir nicht zu nähern, würde er ohnehin nicht ernstnehmen.
Manchmal
frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich mich damals nicht für meine
Tochter, sondern für ihn entschieden hätte, wie er es gewollt hatte. Ich bin
mir sicher, dass ich sehr unter der Trennung von meiner Tochter gelitten hätte.
Darauf wäre es bestimmt hinausgelaufen, das hatte er doch beabsichtigt. Ich
weiß, dass ich mit einer Person, die so etwas von mir verlangte, nicht hätte
wirklich glücklich werden können. Wenn ich nicht so gehandelt hätte, wie er es
wollte, hätte er mich vielleicht längst getötet.
Ich kann nicht weiter allein
in meinem Haus leben. Fast jede Nacht träume ich von diesem schrecklichen
Abend. Wie Rainer mich hinter dem Vorhang findet und mich erschießen will.
Bevor er mich töten kann, bin ich bis jetzt immer schweißgebadet erwacht. Ich kann
keine Nacht mehr ruhig schlafen. Auch tags verfolgt mich die Angst. Ich traue
mich ohne Begleitung nicht, das Haus zu verlassen. Ich habe deshalb entschieden, aus meinem geliebten Haus wegzuziehen zu meiner Tochter. Rainer kennt ihre
Adresse nicht. Ich wünsche mir, dass ich dann endlich wieder ein normales Leben
führen kann. Ohne Angst.
Wie oft liest man in den Zeitungen, wenn ein unerklärlicher Mord passiert ist:
Aber unser Nachbar war doch so ein netter Mensch, liebenswürdig, unauffällig.