Freitag, 29. Juni 2018

Immer langsam voran


von Sophie Lange

Ich gebe es ehrlich zu. Ich war nie eine gute Autofahrerin und bin auch nie gerne gefahren. Nur wenn es unbedingt sein musste, setzte ich mich hinters Steuer. Und dann fuhr ich langsam und unsicher.

So auch an jenem Morgen, als ich von einem Arztbesuch auf dem Weg nach Hause war. Ich fuhr langsam, wie immer. Plötzlich sah ich am Wiesenrand ein großes Schild: Erdbeeren! Frisch vom Feld! Ich stieg voll in die Eisen. In diesem Moment krachte es. Automatisch ging ich auf die Bremse, schaute in den Innenspiegel. Hautnah stand ein Auto hinter mir. Erschrockene Augen eines jungen Mannes starrten nach vorne.

Wir stiegen beide aus. Ich war ein bisschen wackelig auf den Beinen. Der Schock! Aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Das Auto hatte nur eine zerbeulte Stoßstange. In diesem Moment hielt ein Polizeiauto neben uns. Wieso das so schnell auftauchte, ist mir bis heute schleierhaft. Wie vom Himmel gefallen!
„Alles okay?“ fragten sie fürsorglich. Wir nickten beide.
Doch dann schimpfte der junge Mann los: „Die da,“ er stocherte mit dem Zeigefinger auf mich. „Die da ist voll langsam gefahren. Und dann bremst sie auch noch plötzlich.“
Der jüngere Polizist sah sich zu einer Belehrung genötigt: „Wer auffährt, der ist immer schuld. Sie müssen so viel Abstand halten, dass Sie jederzeit bremsen können.“ Aufgeregte Diskussion. Über Geschwindigkeit und Bremsweg, über guter Bulle, böser Bulle, über Frau am Steuer – Ungeheuer! Ich stand wie bedröppelt dabei. Wenn ich die Sachlage richtig einschätzte, fühlte ich mich schuldig, war aber unschuldig. Der Typ war schuldig, fühlte sich aber unschuldig. Ja, so spielt das Leben. Ich wollte mich schon mit meinem Unfallpartner solidarisch erklären, als dieser losdonnerte: „Frauen gehören an den Herd und nicht hinters Steuer!“ Macho! Blötschkopp! Jetzt hatte er bei mir verspielt. Ich warf ihm einen Blick zu, der töten konnte.

Irgendwie wurden wir uns schließlich einig, kamen mit einer Ermahnung davon  und fuhren los. Der Macho mit einem Kavaliersstart. Ich ganz vorsichtig. „Erdbeeren!“ fiel mir ein. Die konnte ich jetzt wohl vergessen.
Ich wurde von meinen Kollegen wegen meines Schneckentempos immer als „Straßenfeger“ gehänselt, wobei das Wort eine ganz neue Bedeutung erhielt. Doch einmal habe ich tatsächlich ein Protokoll bekommen wegen zu schnellen Fahrens. Ich kam von der Arbeit, fuhr täglich die gleiche Strecke. Die Landstraße führte durch ein kleines Straßendorf. Vor dem ersten Haus ein Schild: 70. Schneller fuhr ich sowieso nicht, aber trotzdem ging ich noch mit dem Tempo runter. Am Ende des Dorfes – nach 100 Meter - ein Polizeiauto, ein Beamter hielt seine Kelle hoch, winkte mich rechts ran. „Sie sind zu schnell gefahren“ erklärte er barsch.
„Nee, nee,“ verteidigte ich mich. „Ich bin nicht über 70 gefahren.“ Der Polizist grinste hinterhältig. „70 war gestern. Seit heute Morgen sind die Schilder weg. Jetzt gilt das Ortsschild und das heißt: 50.“ So ein fieser Möpp! Hatte mich doch glatt auflaufen lassen. Hätte ich mich nicht verteidigt, hätte er mir niemals nachweisen können, wie schnell ich gefahren war. Ein Strafgeld war fällig.

Am nächsten Tag im Büro zeigte ich stolz wie Oskar den Strafzettel. „Zu schnell gefahren,“ erklärte ich den Kollegen. Das hat mir natürlich zuerst niemand geglaubt. Aber als ich sie überzeugt hatte, haben sie mich total bewundert.



Übrigens:

Bei der nächsten Feier werde ich einen ausgeben. So aus besonderem Anlass!

                                                                                                                                                        


Freitag, 22. Juni 2018

Wo die "wisse Juffer" spukt


von Sophie Lange

Der Morgen erwacht. Ein erster bleicher Streifen durchbricht den östlichen Nachthimmel und verheißt einen sonnigen Tag. Am Fluss zieht sich Nebel zusammen. Er wallt und wogt, senkt und hebt sich, wird licht und wieder dicht, immer in fließender Bewegung in der Unendlichkeit der Nebelwelt. Und da! Mittendrin im Nebelfeld regt sich etwas. Eine Gestalt wächst aus den Nebelschwaden, schwebt über den Boden, tänzelt zum Murmeln des Flusses. Ein langes weißes Gewand umflutet die gespenstische Figur, lockiges Haar umhüllt ihr feines Gesicht. Die Erscheinung manifestiert sich, schrumpft zusammen, taucht auf, taucht unter im feuchten Nebelmeer: Eine weiße Juffer, eine feenhafte Sagengestalt! Bereits während die ersten Sonnenstrahlen die Nebelwolke aufsaugen, löst sich das Wesen in Nichts auf.  

„Der geisternden Juffern (Jungfrauen) und Frauen gibt es Tausende im Rheinland“, heißt es bei Franz Peter Kürten 1974 in „Volksleben und Lande am Rhein.“ Tausende! Da müssten diese uns doch eigentlich jederzeit und allerorten über den Weg laufen. Doch man bekommt sie höchst selten zu Gesicht, nur manchmal in sommerschwülen Vollmondnächten oder „vor Tau und Tag“ an diesig verhangenen Gewässern.  

Die Juffern sind die Nachfolgerinnen der Matronen, Fruchtbarkeits-Göttinnen, die bei Kelten, Germanen und Römern große Verehrung fanden. Als diese heidnische Religion vom Christentum verdrängt wurde, flüchteten die Gottheiten in die Sagenwelt, wo sie als Juffern die früheren Schutzfunktionen der Matronen übernahmen. So hüteten die eher regionalen Göttinnen vorwiegend die Früchte der Erde. Auf ihrem Schoß halten die würdigen Damen auf Weihesteinen oftmals Körbe mit Obst. Und auch die Juffern fühlen sich für das Obst verantwortlich. Von abends bis morgens gehen sie „rund“ durch die Obstwiesen, damit kein reifes Obst gestohlen wird. Mit einem Vers warnt man Obstdiebe:

Wenn de wisse Juffer kütt
und dich üvverm Klaue kritt,
mäht se dich mem Obst ze Tütt!

(Wenn die weiße Juffer kommt und dich beim Stehlen erwischt, macht sie dich mit dem Obst zu Kompott.)

Aus Köln stammt folgende Sage (1881), die ebenfalls einen Bezug zu den Matronen bringt: „Die schlimmsten Spukgeschichten fanden auf der Hochstraße nahe am Severinstor statt. Dort begegnete dem nächtlichen Wanderer eine wunderschöne, fast übergroß gewachsene Frauengestalt. Reich gelockt fiel ihr das Haar, von Perlen und Edelsteinen durchwunden, in den stolzen Nacken, kostbar und prächtig waren ihre Gewänder. Wehe dem, der sie anredete; zu ihm wendete sie sich, schloss ihn, ohne ein Wort zu sprechen, an ihre Brust und verschwand. Wen sie also so umarmt, den traf der Tod nach einigen Tagen. Blieb aber vorsichtig stumm, dem sie sich als Begleitung zugesellte, dann seufzte sie tief auf, setzte ihr Tischlein (Opferaltar?) an der Ecke des Büchels zur Erde, klatschte in die Hände und war verschwunden.“

Eine weiße Frau kann aber auch an eine adlige Dame erinnern, die im Jenseits nicht ihre ewige Ruhe findet. So geistert im Düsseldorfer Schloss nachts eine große Frau in weißem Gewand rast- und ruhelos durch die Hallen. Handelt es sich hier um die Stamm-Mutter des Altena-Berg-Brandenburgischen Geschlechts? Diese Ahnfrau soll aus dem Geschlecht der märchenhaften Schwanen-Jungfrauen stammen, und der Raum, in dem sie am liebsten herum spukt, wird Schwanenzimmer genannt.

Übrigens:
Wer auf solch ein Spukwesen trifft – ob göttlicher oder adliger Herkunft -, sollte still und „vorsichtig stumm“ bleiben und immer „auf Armeslänge“ Distanz halten. Und niemals Obst stehlen! Wer möchte schon zu „Tütt“ werden.

Freitag, 15. Juni 2018

Was sollen denn die Leute sagen!


von Sophie Lange

Sie hatten eine große Macht in unserer Jugend: Die Leute. Denn wenn man  ein bisschen neben der festgesetzten Spur ging, etwas aus der Reihe tanzte, dann hieß es gleich: Was sollen denn die Leute sagen! Die Leute! Das waren auf dem Land das ganze Dorf, in der Stadt gehörten dazu Nachbarn, Verwandte, Kollegen, Bekannte. Manchmal hieß es auch: „Was sollen denn die Leute denken.“ Denken! Noch schlimmer als „sagen“, obwohl man das nun wirklich nicht beeinflussen kann.

Mir fällt folgende Geschichte ein. Wir Mädchen hatten uns lange Hosen gekauft, was damals noch nicht in Mode war. Stolz trugen wir diese wie Models. Die Erwachsenen waren entsetzt: „Ihr seid doch Mädchen und keine Jungs. Was sollen denn die Leute sagen! Ausziehen! Aber dalli!“ Nun war es uns eigentlich piepschnurzegal, was die Leute sagten, aber brav gehorchten wir - nach außen hin. Die Hosen wurden trotzdem angezogen – allerdings nur heimlich.

In der Schule – eine Mädchen-Klosterschule - war es streng verboten, mit einer Männerhose das Schulgelände zu betreten. So war jeden Morgen dasselbe Schauspiel zu beobachten. Vor dem Schultor holten wir aus unseren Schultaschen einen langen Rock und zogen diesen über die Hose an, mit der wir uns frühmorgens aus dem Haus geschlichen hatten. Nach Schulschluss dann das Ganze umgekehrt. Modern behost schritten wir dann durchs Städtchen zum Bahnhof, von dem aus wir nach Hause fuhren.

Das Problem „Was sollen denn die Leute sagen“ ist nicht neu. Bereits in dem Volkslied „Horch was kommt von draußen rein“ aus dem 19. Jahrhundert findet es Erwähnung. Da heißt es in der zweiten Strophe:

Leute haben oft gesagt,
was ich für ein Liebchen hab!
Lass sie reden, schweige still,
kann ja lieben, wen ich will.

Hier erfahren wir die Lösung, um den Ärger nicht in uns rein zu fressen: Lass sie reden! Einfach reden lassen, die lieben Leute, und sich nicht darum kümmern.


In dem Buch „Rheinlandstöchter“ (1898) von Clara Viebig (1860-1952) unterscheidet sich Nelda von den anderen jungen Damen; sie will sich nicht den „Zwängen der Gesellschaft“ unterordnen und so fragt sie: „Kann ich nicht einfach so sein, wie ich will?“ Nein, liebe Nelda, das konnte man damals nicht. Was sollen denn die Leute sagen! So waren die Frauen meist angepasst und lebten so, dass alle mit ihnen zufrieden waren. Nelda aber geht ihren eigenen Weg, versucht aber auch, ihre Mutter zu verstehen und entschuldigt sie: „Meine Mutter gibt sehr viel auf das, was Menschen sagen.“ Als Nelda in ihrer Heimatstadt Koblenz ins Gerede kommt, fährt sie zur Erholung und „zur Kräftigung der Nerven“ zu ihrem Onkel in die Eifel. Doch da ist es nicht anders als in der Stadt. Wer gegen allgemein übliche Dorfregeln verstößt, über den reden die Leute - natürlich meist „hintenrum“. Nelda bekommt den guten Rat eines selbstbewussten Mädchen: „Wat de Leut sagen, dadran muss mr sich net kehren (kümmern)!“


Übrigens:
Zum Glück wissen meine lieben Mitmenschen nicht, was ich als „Leute“ von ihnen denke, nämlich: „Ihr habt doch alle ene Ratsch im Kappes.“ (wörtliche Übersetzung: Riss im Kohlkopf; frei übersetzt: Sprung in der Schüssel oder nicht alle Latten am Zaun oder nicht alle Tassen im Schrank haben.)

Freitag, 8. Juni 2018

Im Hippeland


von Sophie Lange

Es war einmal ein Land, das nannte sich Hippeland. Es muss ein ärmliches Land gewesen sein, denn es wurde abfällig darüber gesprochen.

Aber wo liegt Hippeland? Oder besser: Wo lag Hippeland? Keiner weiß etwas Genaues, und jeder sagt etwas anderes. So lokalisieren die Rechtsrheinischen im Linksrheinischen das mysteriöse Hippeland, für die Linksrheinischen liegt es rechtsrheinisch. Die Klever vermuten Hippeland jenseits der Grenze: Holland ist Hippeland. Die Düsseldorfer haben im Stadtteil Gerresheim ihr Hippeland gefunden; und in Neuss tragen die Einwohner des Stadtteils Grimlinghausen ihren Spitznamen Hippeland mit Stolz und Würde. Hier in Neuss erfahren wir denn endlich mal Genaues, denn Hippeland ist da, wo die Hippen, die Ziegen, leben. Und hier liegen  sogar genaue Zahlenangaben vor: „1816 gab es in Neuss 616 Ziegen; ihre Zahl stieg bis 1861 auf 2857, wovon 268 auf die Stadt selbst entfielen.“ Ein wahres Hippeland!

Im Hippeland leben die Hippeländer, komische Käuze, rückständige, weltfremde Eigenbrötler; das sagen sie nicht von sich selbst, das sagen die anderen. Ansonsten ist das Land noch voller Hippe, Ziegen, Jeeße oder wie immer man sie nennen mag. In einem hölzernen Verschlag, der an jedem Häuschen klebt, ist die Hippe, die Kuh des kleinen Mannes, untergebracht. Eine Ziege ist sehr genügsam. Sie braucht keine große Weide wie die Kühe im reichen „Kuhdorf“ sondern findet schon am Wegrand genug Nahrung.

Genau beschrieben haben das die Brüder Grimm im Märchen vom Tischleindeckdich: „Vor Zeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine einzige Ziege. Aber die Ziege, weil sie alle zusammen mit ihrer Milch ernährte, musste ihr gutes Futter haben und täglich hinaus zum Weiden geführt werden.“ Jeden Tag musste einer der Söhne dafür sorgen, dass die Ziege ihr Futter bekam. Der erste Sohn brachte sie „auf den Kirchhof, wo die schönsten Kräuter standen.“ Der Zweite suchte an der Gartenhecke einen Platz aus, „wo lauter gute Kräuter standen.“ Der Dritte „suchte Buschwerk mit dem schönsten Laube aus und ließ die Ziege daran fressen.“ Der Vater schließlich „brachte sie zu grünen Hecken und unter Schafrippe und was sonst die Ziegen gerne fressen.“

Dass das boshafte Tier zuerst behauptet
„Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt; mäh, mäh“,

aber später den jeweiligen Hütejungen und sogar den Vater reinlegt, wissen wir noch aus Kindertagen, denn bei Nachfrage im Stall, behauptet dieses falsche Viehsch frech:

Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur übers Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein; mäh,mäh.

Diese Verse sind fast so etwas wie geflügelte Worte geworden. Mäh, mäh!



Laut dem Buch „Alles Kokolores“ von Peter Honnen gibt bzw. gab es mehrere Vereine, die Hippeland „als Identität stiftende Herkunftsbezeichnung“ auf ihre Vereinsfahnen geschrieben haben: „So bezeichnen sich die 'Neusser Heimatfreunde' selbst als 'Hippeländer', ein Issumer Hundezuchtverein nennt sich 'Issumer-Hippeland-Hoppers'; es gibt die Karnevalsgesellschaft „Hüppeländer Jonges', den Bürger- und Kleingartenverein 'Hippeland' in Gerresheim sowie einen Footballclub mit dem martialischen Namen 'Hippeland Warriors'.“ Der einstige  Hippeland-Express zwischen Kleve und Xanten wurde 1989 eingestellt. Damit endete nach 85 Jahren dieser Nordabschnitt des Hippeland-Express durch das schöne Hippeland.

Es war einmal ein Land, das nannte sich Hippeland. Es war hier und da, überall und nirgendwo; es war nah und es war fern; es war groß und es war klein, es war einfach und es war einzigartig und überall hörte man ein ständiges Mäh, mäh.

Im Hippeland lebten die Hippeländer mit ihren Ziegen, bescheiden und zufrieden, einfach und glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – die Hippeländer im Hippeland. Ob mit oder ohne Ziegen.


Freitag, 1. Juni 2018

Das Neueste, Teil zwei

von Anne Pöttgen

„Ob die arme Frau da schon tot war?“, Margret hätte es gern genau gewusst. Vielleicht hatte man ja doch die 112 angerufen. Der Wagen kam so oft zum Haus, dass es gar nicht aufgefallen wäre.
„Schade, dass wir nicht wissen, wer sie gefunden hat. Wen könnte man denn danach fragen?“ Johanna hatte Blut geleckt – im übertragenen Sinne natürlich.
„Das hab‘ ich schon versucht, bin aber abgeblitzt.“ Susanne war recht kleinlaut.
„Und wen hast du gefragt?“, wollte Irmtraud wissen.
„Die Damen an der Rezeption.“ Susanne.
„Das hätte ich dir gleich sagen können, die verraten gar nichts, wissen von gar nichts.“ Johanna überlegte: „Wo hat sie denn gewohnt? Vielleicht wissen die Nachbarn etwas?“
Niemand wusste es. Aber das konnte man klären, es gab an der Rezeption eine Mappe mit Angaben zur Person: Wohnungsnummer, Telefonnummer. Johanna erbot sich, danach zu sehen und machte sich auch gleich auf den Weg. Aber schon ihr schleppender Gang bei der Rückkehr verriet, dass sie keinen Erfolg gehabt hatte. Was war los?
„Flott sind sie, das muss man ihnen lassen: Als hätte es diese arme Frau nie gegeben. Kein Eintrag unter Ullrich.“ Johanna ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, ergriff die Kuchengabel und tröstete sich mit dem Rest der Champagnertorte.
„Fangen wir ganz von vorne an“, sagte nun Irmtraud. „Machen wir eine Ortsbesichtigung.“
„Ach, ja, vielleicht finden wir noch Blutspuren.“ Margret war begeistert. Ärgerte sich aber doch, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen war. „Wir brauchen aber Taschenlampen“, ergänzte sie.
Irmtraud hatte eine im Auto, Johanna glaubte auch, eine zu haben. Ob das reichte?
Ortsbesichtigung. Mit dem Vorwand, etwas aus dem Auto von Irmtraud holen zu wollen – falls jemand dumme Fragen stellen sollte. Erst einmal wurden die Geräte besichtigt, die in verschiedenen Ecken der Tiefgarage standen. Nichts. Jedenfalls nichts, was wie Blut aussah. Es sah auch nicht so aus, als hätte man alles abgewischt. Alles ziemlich alt und verschmutzt.
Nun also der Boden. Mittelgang. Zwischen den parkenden Autos. Vielleicht war eines der Autos unterwegs gewesen? Also darunter ausleuchten. Wer? Die Beweglichste: Susanne.
„Siehst du was?“, fragte Johanna.
„Mach es nur ja gründlich, wir dürfen nichts übersehen.“
„Da. Da ist etwas.“ Susanne jubelte.
„Ja was denn? Her damit.“ Irmtraud.
„Ja klar, aber wie? Soll ich etwa drunter kriechen. Nee danke.“ Sie war sauer, dass sie sich nicht gegen die Zumutung gewehrt hatte – aber Irmtraud hatte so eine Art …
„Aber was ist es denn?“, drängelte Johanna.
„Sieht aus wie …“
„Wie?“
„Wie ein Rest vom Flatterband!“
„Vom Flatterband?“
„Ja, du Schaf, vom Flatterband der POLIZEI!“
Ahhh. Der Beweis. Da war etwas gewesen. Sie brauchten das Band gar nicht. Seine Anwesenheit war Beweis genug. Tiefe Befriedigung, vierfach. Wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, hätte man einen kleinen Freudentanz vollführt, oder etwas Ähnliches. Aber in letzter Sekunde konnte man sich zurückhalten. Man war Mensch und Dame. Nur Susanne, die bewegliche, setzte an. Brach aber ab, knipste die Taschenlampe aus und lehnte sich gegen den Irmtraud-Mercedes.
Wenn jetzt jemand gesagt hätte „der Fall ist gelöst“, hätte niemand widersprochen. Obwohl …
Man machte sich auf den Weg zurück zur Cafeteria. Neben dem Tresen der Rezeption stand Frau Klarbach, eine Nachbarin von Margret. Sie wedelte mit einem Zeitungsteil.
„Das Neueste“, rief sie und stürzte auf die vier Detektivinnen zu. "Haben Sie schon das Neueste gelesen?"
„Was?“
„Was ist los?“
„Nun reden Sie schon.“
„Was steht denn drin?“
„Lesen Sie selbst“, sagte Frau Klarbach und reichte Margret die Zeitung, den Lokalanzeiger.
„Kommt mit in die Cafeteria, da haben wir mehr Ruhe.“ Margret als die Hauptermittlerin übernahm das Kommando.
Der Lokalanzeiger Erkrath berichtete auf Seite eins:
„Brutaler Mord im Haus K.?
Wie wir aus gut unterrichteter Quelle erfahren, ist in einer Wohnanlage für Senioren in unserem Ort eine Leiche gefunden worden. Die Polizei ermittelt, kann oder will aber bisher nichts zur Tat, zur Tatsituation und zum Opfer verlauten lassen. In welcher Zeit leben wir?“
Da wussten Irmtraud, Johanna, Margret und Susanne schon wesentlich mehr. Aber die einhellige Meinung am Tisch war: Nachforschungen einstellen. Wozu haben wir schließlich die Polizei?