Dienstag, 9. Mai 2017

Abwechslung um jeden Preis


„Hallo Margret, du siehst aber recht mitgenommen aus. Was ist los?“ Johanna saß bereits am Tisch in der Cafeteria, ihre weißen Haare glänzten in der Sonne. Margret sank langsam auf einen Stuhl und seufzte.
 „Allerdings,“ murmelte sie.
„Erzähl mal“, sagte Irmtraud, die auch schon Kaffee und Kuchen vor sich stehen hatte.
„Neun Uhr dreißig Sitzgymnastik mit Musik im Gymnastikraum.“
„Schön, hab ich auch mal gemacht“, bekannte Gerda und nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Du? Wirklich? Hätte ich nicht von dir gedacht.“ Johanna wunderte sich, so kannte sie Gerda gar nicht.
„Wieso, was hast du gegen Sitzgymnastik, zu spießig?“, antwortete die. Und Margret fragte spitz: „Ist dir wohl zu simpel?“
„Nun mal mit der Ruhe, keinen Streit wegen Sitzgymnastik, meine Lieben.“ Irmtraud pochte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch. Sie war das Haupt und der Mittelpunkt der kleinen Gruppe von älteren Damen, die im Haus am Kirchberg wohnten und sich ab und zu bei Kaffee und Kuchen in der Cafeteria des Hauses trafen.
Johanna kam zu ihrer Frage zurück und meinte: „So stressig ist es aber doch wirklich nicht.“
„Nein, natürlich nicht – aber anschließend um zehn Uhr Nordic Walking“, sagte Margret in leidendem Ton.
„Na, ja, Geschmackssache, sieht irgendwie unelegant aus.“ Irmtraud, auch zuständig fürs Elegante, was man an ihrer erstklassigen Garderobe ablesen konnte. Außerdem exzellenter Haarschnitt. Düsseldorfer Friseur natürlich.
Den anderen war anzusehen, dass auch sie es unelegant fanden.
„Eigentlich hätte ich jetzt gerade im Gedächtnistraining sein sollen,“ fügte Margret noch an und orderte erst einmal einen Cappuccino, zufrieden mit dem Gedanken, dass sie mal wieder schwänzte. Aber dieser Kaffeeklatsch war ihr wichtig.
„Ach verflixt, das habe ich total vergessen, ich auch,“ rief Johanna und machte Anstalten aufzustehen.
„Zu spät“, sagte Margret. Und Susanne musste unbedingt eine ihrer Spitzen loswerden:
„Wozu Gedächtnistraining? Anscheinend doch für die Katz.“ Johanna nahm’s nicht so ernst, sank wieder auf den Stuhl zurück und lachte. „Na, dann morgen Vormittag.“
„Kann man denn von einer Gruppe in die andere wechseln?“, fragte Irmtraud.
„Nein, das wohl nicht, aber ich geh immer in beide.“
„Ach,“ sagte Irmtraud nur. Und Susanne grinste.
Margret fragte: „Wieso Gedächtnistraining, ich hab dich da noch nie gesehen.“
„Kannst du auch nicht, denn du bist wohl um drei Uhr bei Frau Maierling und ich um drei Uhr dreißig bei Herrn Überall.“
„So viel Gedächtnistraining an einem Tag?“, fragte Susanne.
„Täglich irgendwann und irgendwo. Mal nur für Damen, mal nur für Herren, mal gemischt.

 „Hat jemand von euch denn schon mal beim kreativen Arbeiten mitgemacht?“, fragte Irmtraud. „Ich wollte immer mal beim Mandalamalen einsteigen, aber um elf Uhr morgens bin ich noch nicht in der richtigen Stimmung. Da langt es allenfalls für Atem- und Entspannungsübungen, das tut wirklich gut.“ Irmtraud setzte an, die Übungen zu demonstrieren, fand es dann aber wohl zu unelegant. Wollte keinen Anlass zu kritischen Bemerkungen bieten.
„Früher gabs ja mal einen Kurs in Seidenmalerei, ich hab noch reichlich Schals in der Schublade. Müsste ich mal wieder hervorholen.“ Johanna guckte wehmütig und griff nach dem Schal, den sie um den Hals trug, der sah allerdings nicht selbstgemacht aus, eher designermäßig.
A propos Sitzgymnastik“, Margret griff das Thema wieder auf.
„Ja? Gibt’s da was Neues?“, fragte Johanna.
„Einmal Krankenhaus: Sturz, und einmal Essen in der Wohnung: Grippe.“
„Ja, der Schwund ist groß“, resümierte Irmtraud.
„Aber wenigstens kommen die wieder“, versuchte sich Margret in Optimismus.
„A propos Sturz, ich war mal eine Zeit bei der ‚Sturzprävention‘, Donnertagnachmittag. Kollidierte dann leider mit meiner Runde Rummicub.“
Gerda sah plötzlich nach Aufbruchstimmung aus. „Genau wie jetzt – ich muss los.“

Enttäuscht blieben die vier restlichen Damen zurück. Schweigen breitete sich aus, es hatte was Meditatives. Bis Susanne aufschreckte und rief: „Wisst ihr, wer gestern beim Dart gewonnen hat?“
„Dart? Nein, nichts für mich – meine Augen“, Johanna war auch mehr die Intellektuelle und anscheinend nicht neugierig.
„Ja, wer denn?“, fragte Margret.
„Herr Müller-Reinshagen.“
„Was? Na, der ist aber sportlich, der kegelt doch auch.“ Gerda hatte es auch mal versucht, angestiftet von eben jenem Herrn Müller-Reinshagen. Es war ihr zu dunkel gewesen in der Kegelbahn und zu laut, nix für sie. Sie hatte es lieber hell und ruhig.
„Nicht nur das, den sieht man auch im Billardzimmer.“ Irmtraud wohnte im Haupthaus und kam immer an diesem Raum vorbei, wenn sie in die Halle wollte.
„Und das letzte Sportfest hat er auch organisiert.“ Daran erinnerte sich Gerda.
„Sportfest, was soll das denn gewesen sein?“, fragte Susanne, die Kritische.
„Mit Bällchen und mit Ringen werfen und dazwischen isotonische Getränke, damit auch alle durchhielten.“ Gerda sah Susanne an und beide lachten lauthals.
„Hans Dampf in allen Gassen, der Herr Müller-Reinshagen, der ideale Bewohner dieses Hauses.“