Sonntag, 31. Dezember 2017

Bilanz

In diesem Jahr sind die Besucherzahlen erfreulich angestiegen. Ich bin sicher, dass das vor allem auf die Artikel von Sophie Lange zurückzuführen ist. Ich bin also sehr froh, dass ich sie gewinnen konnte, bei den Seniorengeschichten mitzuwirken.
Ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern einen guten Übergang ins neue Jahr. Und für das ganze Jahr 2018 vor allem Gesundheit - wir sind ja alle Senioren - und ein fröhliches Herz.

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Zwischen den Jahren


Es war still im Wald, kein Laut, kein Geräusch in dem Tal, das der Volksmund „im Paradies“ nennt. Eine heilige Stille oder eine unheimliche Stille? Und doch war da ein geheimnisvolles Flüstern, ein fremdartiges Wispern. Es schien hoch oben aus den Baumwipfeln zu kommen. Oder noch höher aus unvorstellbaren Sphären, fern von Raum und Zeit.

Es war die Zeit zwischen den Jahren vom 24. Dezember bis 6. Januar und in dieser Zeit der 12 Raunächte geschieht so allerhand Mysteriöses zwischen Himmel und Erde. So wurde aus dem Flüstern allmählich ein Säuseln und Rascheln, ein Sausen und Brausen, ein Raunen und schließlich ein durchdringendes Spektakel. Dann ein schrilles Gekreische und ein ausgelassenes Getöse. Jetzt war es klar. Es wurde zur wilden Jagd aufgerufen. Einen Flashmob würde man das heute nennen, ein Treffen, zu dem in den sozialen Netzwerken aufgerufen wird und zu dem sich immer mehr Menschen einfinden. Doch es waren keine Menschen, die da polternd in den Lüften zusammenkamen, sondern Geister, alles was die Geisterwelt zu bieten hat.

Zunächst war da ein stolzer Ritter auf einem noch stolzeren Ross. Wotan höchstpersönlich, der germanische Gott und Heeresführer; ihm zur Seite ruhmreiche Ritter, wilde ewige Jäger, grausige Höllengeister, knochenbleiche Schreckgespenster, gefräßige Werwölfe, teuflische Nachtmahre, gefallene Engel sowie Dämonen mit blutroten funkelnden Augen. Es folgte die große Schar der unerlösten Seelen, die Untoten, die sich mit stampfenden Beinen und rudernden Armen von der Erde in den Himmel hochschraubten.

Zwischen den Geistern treiben einige tierische Ungeheuer ihr Unwesen:  kläffende schwarze Hunde, heulende Rauhnachtswölfe, grässliche  Geistergäule, furchteinflößende Drachen und Einhörner, krächzende Raben, Monster aller Couleur.  Peitschen knallen, Befehle bellen, ein Gekreische und Geschreie, die reinste Kakofonie. 

Und dann erscheint sie: die Göttin in Himmel und auf Erden: Frau Holle, die Perchte, mit ihrem Frauenheer, unüberschaubar groß: verzauberte Prinzessinnen in rauschender Seide, wilde Amazonen auf feurigen Rossen, furchterregende Hexen auf sperrigen Besenstielen, bereit zum gestelzten Lufttanz. Wotan begrüßt die Göttin und ihr Gefolge ehrfurchtsvoll.

Die Unruhe wird immer ungezügelter und endlich bei der ersten fernen Dämmerung gibt Wotan das Zeichen zum Aufbruch. Die wilde Jagd beginnt. „Im Paradies“ wird die Luftstille zu einem Wind, der Wind entwickelt sich zum Sturm, die Sturmböen explodieren in einen Orkan. Das wilde Heer jagt über den Himmel, lässt die Erde erbeben, die Menschen erzittern.

Einige Späher beobachten genau, was sich auf der Erde tut. Halten die Menschen sich an die uralten Überlieferungen, die in der Zeit vom 24. Dezember bis 6. Januar beachtet werden müssen? Erstes Gebot: Absolute Ruhe! Alle Aktivitäten haben zu unterbleiben. Die Geister haben allein das Sagen. Die Menschen sollen das alte Jahr überdenken und sich auf das neue Jahr vorbereiten. Doch da! Da spaltet doch tatsächlich ein Mann Holzscheite auf dem Holzklotz. Einige Geister erhalten einen Wink von Wotan und schon sausen sie runter zur Erde, umkreisen den Mann mit Gebrüll, reißen ihm die Axt aus der Hand, den Hut vom Kopf. Er flüchtet ins Haus. Schnell zündet er eine Kerze an, stellt sie ins Fenster. Hoffentlich kann er damit die Geister besänftigen.

Alle Häuser, in deren Fenster eine Kerze leuchtet, werden von der wilden Jagd verschont. So sagt es der Volksmund. Die meisten Menschen befolgen das Gebot; manche meinen es besonders gut, sie lassen ihr Haus von einem ganzen Lichtermeer anstrahlen. Ach, diese Menschen, sie müssen immer übertreiben. Das gefällt Wotan überhaupt nicht. „Blast die Lichter aus“, befiehlt er mit zorniger Stimme.  Aber diese lassen sich nicht auspusten. Und so toben die Wilden durch die Glühbirnen, durch die Kabel, hinterlassen ein wüstes Chaos, bis das Haus dunkel ist, stockfinster.

Auch Frau Holle späht nach unten. Da! Da hängt doch tatsächlich Wäsche auf der Leine. Es ist ein einsames Haus, irgendwo am Waldrand. Dabei wissen doch alle Frauen, dass man in der heiligen Zeit keine Wäsche waschen darf und erst recht nicht draußen aufhängen. Schon sind einige Helferinnen unterwegs, stürmen in die Betttücher, verfangen sich in lange Unterhosen, zerreißen Pullover und Hosen. Sie werden nicht mehr weg kommen, müssen ein ganzes Jahr lang auf der Erde bleiben, denn die wilde Jagd ist längst weitergezogen.  Gutes bringen die Zurückgebliebenen den Bewohnern des Hauses nicht. Die Strafe für die Überschreitung des Verbots besteht in Pech und Unglück, Tag für Tag, das ganze Jahr hindurch.

Doch nicht nur Angst und Schrecken verbreitet das Gespensterheer. Dafür sorgt die Göttin Holle, die als Frau Holle im Märchen die bösen Menschen zwar bestraft, die guten aber reich belohnt. So hält sie Ausschau nach Menschen, die fleißig sind, hilfsbereit, bescheiden, liebevoll, einsam. Und wenn diese Menschen in einer Nacht zwischen den Jahren ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit verspüren, dann wissen sie, Frau Holle war bei ihnen, leise, geheimnisvoll, unsichtbar.

Die Göttin ist es, die Magie in die Zeit zwischen den Jahren bringt.

Sophie Lange



Eine Geschichte „Zwischen den Jahren“ gibt es hier




Samstag, 23. Dezember 2017

Weihnachtsgrüße



 Aus der winterlichen Eifel
wünsche ich allen meinen treuen Lesern und Leserinnen
ein gesegnetes Weihnachtsfest
mit besinnlichen und glücklichen Stunden

Ihre Sophie Lange

Auch ich wünsche allen, die hier hineinschauen, ein frohes Weihnachtsfest
Ihre Anne Poettgen








Freitag, 22. Dezember 2017

Weihnachten 2017


Noch einmal ein Weihnachtsfest,
Immer kleiner wird der Rest,
Aber nehm ich so die Summe,
Alles Grade, alles Krumme,
Alles Falsche, alles Rechte,
Alles Gute, alles Schlechte -
Rechnet sich aus all dem Braus
Doch ein richtig Leben raus.
Und dies können ist das Beste
Wohl bei diesem Weihnachtsfeste.

Zum 24. Dezember 1891
 Theodor Fontane 1819-1898


Donnerstag, 14. Dezember 2017

Weihnachtsstress



Weihnachtsstress! Alle Jahre wieder. Aber in diesem Jahr nicht! Das hat Gertrud sich zumindest fest vorgenommen. So hat sie bereits im Oktober  reichlich eingekauft: Lebkuchen, Printen, Spekulatius, Spritzgebäck, denn seit Mitte Herbst träumen in den Regalen der Supermärkte bereits  Weihnachtsprodukte vom Lichterfest. Aber seltsam. Zu Hause verschwinden die Vorräte auf geheimnisvolle Weise. Wenn das so weiter geht, bleiben bei der Bescherung die „bunten Teller“ leer. Also heißt es, für Nachschub sorgen. Auch Geschenke hat Gertrud schon frühzeitig besorgt. Doch inzwischen äußern die Lieben ganz andere Wünsche.
Also alles wieder auf Anfang.

So will Gertrud heute in die Stadt fahren und die notwendigen Weihnachtsbesorgungen machen. Doch zunächst gönnt sie sich bei Kerzenlicht am Adventskranz ein ausgiebiges Frühstück. Soviel Zeit muss sein. Und dann Auto raus und ab in die Stadt.

Gertrud streift durch die Geschäfte, schaut hier, prüft dort, kauft eine Kleinigkeit. In einer Boutique staunt sie über das riesige Angebot an künstlichen Kerzen, batteriebetrieben mit beweglicher Flamme – ohne Flamme; mit Fernbedienung, mit Timer, in allen Farben und Schattierungen: feuerrot, aquamarin, zartrosa, altlila, kleinkariert; dekoriert mit Engel, Sternen, Tannen, Rentieren, Weihnachtsmännern. Nein, das ist nichts für Gertrud. Sie liebt das Natürliche. Nur echte Kerzen schaffen eine besinnliche Atmosphäre, strahlen diese mystische Magie aus, diese winterliche Ruhe, diese weihnachtliche Feststimmung. Man muss natürlich die „echten“ Flammen im Auge behalten.

Gertrud bleibt ruckartig stehen, als ob sie gegen eine Glaswand gelaufen wäre, Flammen! Hat sie die Kerzen am Frühstückstisch ausgeblasen? Nein! Ja! Nein! Doch! Nein, nein, nein! Sie weiß es nicht. Ihr wird siedeheiß. Blitzschnell stürzt sie aus dem Lädchen. Die Gedanken jagen durch ihren Kopf. Die Kerzen sind bestimmt schon runter gebrannt. Der Tannenkranz hat Feuer gefangen. Es knistert, es knarrt, es knarzt. Funken fliegen, Flammen züngeln. Ogott-ogott.

Sie weiß später nicht mehr, wie sie zum Parkhaus gekommen ist, wie sie das Auto durch die Stadt gesteuert hat. Nun jagt sie über Landstraßen. Dörfer tauchen auf und bald entdeckt sie auch ihren Heimatort. Flammen? Feuer? Feuerwehr? Fegefeuer, Hölle? Nein, es sieht alles ganz friedlich aus. Aber da! Rauchwolken! Das ist doch ihre Straße. Jetzt drückt sie voll auf die Tube. In Rekordzeit hat sie ihre Straße erreicht, ihr Haus, die qualmende Säule. Aber  - das ist ja gar nicht ihr Haus. Der Rauch steigt aus dem Garten des Nachbarn, der mal wieder verbotenerweise stinkenden Abfall verbrennt.

„Müssen Sie immer die Umwelt verschmutzen!“ Gertrud schreit, panisch und doch erleichtert. „Das ist rücksichtslos! Das ist unverschämt! Das ist – das ist  -  kriminell!“ Ihre Stimme bricht.
Der Nachbar schaut sie verblüfft an. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragt er seelenruhig. Gertrud antwortet nicht. Sie stürzt ins Haus, stolpert in die Küche, steht vor dem Esstisch. Die Kerzen sind aus – natürlich. Unbewusst, automatisch ausgepustet. Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen. Sie ist fix und fertig. Sie braucht einen Kaffee.

Erst allmählich wird ihr klar, dass sie von ihren Besorgungen nichts erledigt hat. Also morgen nochmals alles auf Anfang. Sie will sich aber besser vorbereiten, will einen ausführlichen Einkaufszettel und einen exakten Laufzettel schreiben. Sie nimmt einen Zettel, notiert: K-Kerzen, Batterien.

Dann eine besinnliche Vorweihnachtszeit - ohne Stress!

Das wünscht uns Sophie Lange






Samstag, 9. Dezember 2017

Der Überfall


„Habt ihr das schon gehört? Unsere Margret!“ Susanne war außer Atem in die Cafeteria gerauscht.„Nein. Was ist denn?“, fragte Johanna und strich sich wieder ihre weißen Haare nach hinten. Eine Macke, wie Susanne hinter vorgehaltener Hand meinte.„Der Überfall!“„Der Überfall, oh Gott! Was ist passiert?“ Gerda.„Habt ihr Margret denn nicht gesehen? Blau – das ganze Gesicht!“ Susanne, hocherfreut, dass sie als Einzige Genaueres wusste. Sie hatte sich inzwischen niedergelassen.
Johanna war in ihren Stuhl zurückgefallen, sie war sprachlos, sie war entsetzt.
Auch Gerda konnte es nicht fassen: blau – im ganzen Gesicht. Musste ja schrecklich aussehen.
„Und wie ist es denn passiert?“ Johanna.
„Hoch dramatisch!“ Susanne.
„Nun red‘ schon!“ Gerda.
Susanne holte tief Luft, reckte sich und begann: „Also, das war so: Margret machte mit ihren Tischnachbarn einen Besuch in Düsseldorf.“ Pause.
„Ja und?“ Gerda.
„Ja, und stellt euch vor …“, Susanne legte eine weitere Pause ein. Es brachte ihr nicht viel, die beiden anderen schwiegen, starrten sie nur an, zunehmend ungeduldiger.
„Stellt euch vor: Da kommen drei Bengel, Burschen, höchstens sechzehn – vielleicht siebzehn Jahre alt und rempeln Herrn Obermaier an – einer der Tischnachbarn von Margret.“ Die beiden anderen schwiegen weiter – eigentlich ging es doch um den Überfall auf Margret – was redete die da? Endlich bequemte sich Gerda, doch zu fragen: „Und Margret?“
„Ja, stellt euch vor … Margret - Margret stürzte sich auf einen von den Typen – und …“
„Und?“, fragte  nun  Johanna, leicht gereizt durch die stockende Erzählweise von Susanne.
„Und der Typ hat zurückgeschlagen!“
„Zurückgeschlagen …“, murmelte Gerda und schüttelte den Kopf. Was für eine Welt. Alle drei schwiegen jetzt.
„Das war verdammt tapfer von Margret – das hätte ich ihr nie zugetraut.“ Johanna.
„Stimmt. Eigentlich ist sie doch eher zurückhaltend.“ Gerda.
„Ich hätte das nicht gemacht, ehrlich gesagt.“ Susanne.
Man saß noch eine Weile beisammen, trank Kaffee, aß Kuchen und verlor sich in Gedanken über die Schlechtigkeit der heutigen Zeit. Gut, gegen Trump, gegen Erdogan, gegen Putin war das nix – aber es betraf sie hautnah. Eine von ihnen.

Auf dem Weg zum Aufzug trafen die drei Damen auf Margret. Tatsächlich – alles blau. Je nach Temperament wurde umarmt oder nicht. Bedauernde Worte - und endlich die Frage: „Wie ist denn das passiert?“ Schließlich wollte man Margret den großen Auftritt ermöglichen – sie sollte hier und jetzt die ganze Geschichte erzählen können.
„Wie so etwas nun mal passiert: Eine Bodenplatte war locker, ich stolpere, kann mich nicht halten und schon war es passiert – ich lag der Länge nach am Boden.“

Zurück in ihrer Wohnung wunderte sich Margret, dass niemand sie wegen des Sturzes  bedauert hatte. So kannte sie ihre Freundinnen doch gar nicht. Schließlich – ihr ganzes Gesicht: blau.  Und Susanne hatte zwei unerfreuliche Telefonate. Aber sie hielt dicht und verriet nicht, von wem sie die Geschichte hatte.

Montag, 4. Dezember 2017

Nikolaus und Hans Muff


Eine Geschichte, die uns Sophie Lange aus der Eifel erzählt


Horrorszene in der Kinderzeit vor 50, 60 Jahren und mehr. Ein dunkler Abend Anfang Dezember.  Der Vater arbeitet noch mit einer Stalllaterne im Stall, in der Scheune oder wer weiß wo. Der Rest der Familie hockt in der heimelig warmen Küche. Das Türchen an der Feuerstelle ist geöffnet und die Glut spendet Licht und Wärme. Die Mutter flickt Kinderhosen, die Oma strickt irgendetwas Langes, vielleicht einen Schal. Opa pafft an der Pfeife - ist auch wichtig. Und die Kinder? Es gibt kein Laptop, kein Smartphone, kein Wii, keine Playstation – nichts. Womit haben Kinder sich früher nur beschäftigt? 

Plötzlich lautes Gerumpel vor der Tür.
 Hohoho!
Der Nikolaus ist da.
Schon öffnet sich die Tür und da steht er: groß, mächtig, würdevoll - mit Bischofsgewand, Mitra und  Bischofsstab. Das Gesicht versteckt hinter einem fülligen langen weißen Bart. Vor sich hält er ein dickes, rotes Buch, das Sündenregister der Kinder.  Hinter ihm eine finstere Gestalt, pechschwarz von Kopf bis Fuß: Der Hans Muff oder auch Knecht Ruprecht genannt. Rostige Eisenketten baumeln über seine Schultern und damit rasselt der Kinderschreck scheppernd. In der rechten Hand hält er einen knorrigen Knüppel; mit einem grummeligen Brummen droht er damit den Kindern Doch das Schrecklichste ist ein Sack auf seinem Rücken und daraus baumelt – die Kinder schaudern – ein Kinderbein. Jedes Kind hat es im Lauf der letzten Monate immer wieder zu hören gekriegt: Wenn du nicht brav bist, steckt Hans Muff dich in den Sack. Angstvoll flüchtet die Schar hinter die Mutter. Wer hat nichts auf dem Kerbholz!

Nur der kleine Karl bleibt todesmutig vor dem heiligen Mann stehen. Er hat vorgesorgt. Er ist clever. Er hat ein Taschenmesser organisiert und in die Hosentasche gesteckt. Jetzt soll der Hans Muff  ihn ruhig in den Sack stecken. Messer raus – ratsch – raus aus dem Sack und weg über alle Berge.

Der Nikolaus winkt Karlchen heran: „Jetzt will ich mal gucken, was alles in meinem Himmelsbuch über dich steht. Hier ist es schon: Dem Schaukelpferd die Mähne abgeschnitten, Mariechen an den Zöpfen gezogen, eine Fensterscheibe im Nachbarhaus eingeworfen – mann-mann-mann – da kommt allerhand zusammen. Hans Muff, pack' ihn! Steck' ihn in den Sack, aber“ – er winkt den Kleinen noch näher ran – „zuerst rückst du mal das Messer raus.“

Der Junge ist starr vor Schreck. Woher weiß der Nikolaus das? Stimmt es wirklich, was die Mutter immer sagt: Der heilige Mann sieht alles. Alles! Zaghaft trennt er sich von seiner letzten Hoffnung.

„Nicht in den Sack“, bettelt der Kleine mit bebender Stimme. „Egal, was ich Böses getan habe, ich tue es nie mehr.“
Der Nikolaus schaut ihn ernst an. „Dann sprich mal ein Gebet, dann will ich es mir noch überlegen.“
Karlchen faltet fromm die Hände: „Ich bin klein, mein Herz ist rein ...“ Doch dann weiß er nicht weiter. Jetzt ist alles aus. Doch da sind plötzlich seine Geschwister neben ihm und gemeinsam sprechen sie das Gebet zu Ende: “... soll niemand darin wohnen als Jesukindchen allein.“
Der Nikolaus ist sichtlich gerührt. Immer wieder hört er, dass sich Geschwister wie die Kesselflicker zanken, doch wenn eines von ihnen in Bedrängnis gerät, halten sie zusammen wie Pech und Schwefel, eine eingeschworene Gemeinschaft. Karlchen ist gerettet.

Der Nikolaus verteilt noch Äpfel und dann brechen der Himmelsbote und sein Knecht wieder auf.  Besonders der kleine Karl erhält noch eine eindringliche Ermahnung. Der Sack droht auch im nächsten Jahr.

Etwas später kommt der Vater ins Haus. Die Kinder berichten ihm aufgeregt: „Der Nikolaus war da.“
Der Vater ist überrascht: „Nää nää!? Da habe ich den schon wieder verpasst. Jedes Jahr dasselbe.“ Und geduldig hört er sich an, was die Kinder erzählen. Doch bald schickt die Mutter die Bande ins Bett. Polternd geht es die Treppe hoch. Karlchen jagt Mariechen und als er sie erreicht hat, zieht er sie an den Zöpfen.  Mit Schmackes! ‚
Das Mädchen schreit gellend auf: „Au! Aua! Du kommst in den Sack!“ Aber das kann Karlchen heute nicht mehr schrecken. Bis zum nächsten Jahr ist noch lang her. 

Sonntag, 26. November 2017

Die Jugend von heute

"I bims" - das ist das Jugendwort des Jahres 2017, sagt der Langenscheidt-Verlag. Was bedeutet es? "Ich bin's". Wirft das einen Blick auf das Selbstverständnis der Jugend? Was ist sie? Sophie Lange zeigt auf, was man in tausenden von Jahren über die Jugend gesagt hat.


Herr M. klagt fast jeden Tag über die „Jugend von heute“ und zählt gleich mehrere Untugenden auf: Respektlosigkeit, Faulheit, Rücksichtslosigkeit usw. usw. „Die jungen Leute können nichts anderes, als den ganzen Tag auf ihren Handies spielen oder über ihre Smartphones wischen“, äußert er seinen Unmut.

Dabei sind die Klagen über die Jugend uralt. Auf einer Inschrift aus dem alten Ägypten, circa 2000 vor unserer Zeitrechnung, steht geschrieben: „Die heutige Jugend zeigt kaum noch Respekt vor den Eltern. Über die Erfahrungen und Weisheiten der Älteren spottet sie.“

Und auf einer babylonischen Tontafel aus der gleichen Zeit heißt es: „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben. Sie ist böse, gottlos und faul.“

Der griechische Philosoph Sokrates (470-399 v. Chr.) konnte feststellen, dass die Jugend nicht nur die Älteren gering achtet, sondern auch die Lehrer tyrannisiert – worüber auch heutige Lehrer klagen. 

Der weise Aristoteles (384-322) fasst zusammen: „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“

Das könnte man jetzt laufend fortsetzen, durch alle Jahrhunderte hindurch. Zu allen Zeiten hatten Erwachsene die Jugend auf dem Kicker.

580 n. Chr. schreibt der Bischof Gregor von Tours, dass man die Flammen der jugendlichen Leidenschaft nur mit Hilfe der klösterlichen Aufsicht und einer strengen Disziplin besiegen könne. Für diese Theorie begeistern sich kaum Jugendliche, egal zu welchen Zeiten.

Die Dichter haben sich natürlich auch zur Jugend geäußert.

Goethe (1749-1832) beklagt: „Dass doch die Jugend immer zwischen den Extremen schwankt!“

Kurz und knapp bringt es der irische Schriftsteller Oskar Wilde (1854-1900) auf den Punkt: “Die heutige Jugend ist grässlich.“

Der Erzähler Paul Keller (1873 – 1932) fasst zusammen: „Die Jugend ist stark, trotzig, rachsüchtig.“
In einem Regierungsbericht von 1852 wird festgestellt, dass bei der Schuljugend die Anständigkeit und das sittliche Benehmen mehr und mehr schwindet. Wen wundert es da, dass von Anstand und gutem Benehmen inzwischen bei den jungen Leuten nichts übrig geblieben ist.

Der Reformator und Humanist Philipp Melanchthon (1497 -1560) urteilt über seine Schüler: „Sie haben keine Lust zu lernen, kein Ehrgefühl, keinen Gehorsam.“

Verständnis für die Jugend "von heute" zeigen nur wenige Zitate.

Den Ball zurück wirft Hansa Mohsen, geboren 1983: „An der Jugend von heute ist die Jugend von gestern schuld.“ Der Wurf trifft; trifft voll ins schlechte Gewissen all derer, die über die eigene Jugend das Mäntelchen „vergessen und vergeben“ ausgebreitet haben.

Der Journalist und Schriftsteller Gregor Dorfmeister, geboren 1929, bricht ebenfalls eine Lanze für die jungen Leute: „Die Jugend ist nicht gut, nicht schlecht. Sie ist wie die Zeit, in der sie lebt.“  Das mag Herrn M. trösten.

Über „die Zeit von heute“ ließe sich nun manches sagen – und nicht nur Positives..

Freitag, 17. November 2017

Im Waschsalon


Gerda schleppte einen Korb mit nicht mehr ganz sauberer Wäsche – das Wort schmutzig kam nicht mal in ihren Gedanken vor – in die Waschküche des Hauses am Kirchberg. Ach, verdammt, dachte sie, als sie die Tür öffnete, schon jemand drin und also vor mir dran. Mürrisch sagte sie „Guten Tag“ und mürrisch schob sie ihren Korb unter den Tisch,  an dem der Jemand saß. Er hatte sehr freundlich zurückgegrüßt und wies nun einladend auf den zweiten vorhandenen Stuhl.
„Wir kennen uns doch, wenigstens vom Grüßen her im Speisesaal“, eröffnete er die Konversation.
„Ja, stimmt“, antwortete Gerda und ihre Miene hellte sich auf. Den fand sie eigentlich ganz nett, hatte ihn gar nicht erkannt in seinem Freizeitlook. Auch ihre Freundinnen hatten sich schon positiv über ihn geäußert. Immer höflich, immer freundlich, immer einen munteren Scherz parat, so hieß es. Außerdem solo, ob ledig oder verwitwet – das war noch unbekannt. Auch nicht so wichtig.
Gerda hatte es sich am Tisch bequem gemacht, sprang aber gleich wieder auf, als sie feststellte, dass der Jemand nicht die Waschmaschine belegt hatte, sondern schon beim Trocknen war. Mit wenigen Handgriffen war das Waschen vorbereitet, die Wäsche eingefüllt und der entscheidende Knopf gedrückt. Zeit für einen Plausch. Und dabei die Gelegenheit festzustellen, ob er wirklich solo war. Ob nicht im Hintergrund eine Lebensgefährtin lauerte, oder eine Freundin oder was auch immer an weiblichen Figuren möglich war.
„Kommen Sie denn mit dem Waschen zurecht?“, fragte Gerda also.
„Ja, natürlich, ich wohne schon eine ganze Weile hier im Haus.“
„Niemand, der Ihnen diese lästige Arbeit abnimmt?“
„Das hab ich nicht nötig, ich kann das alles selbst, das hat mir schon meine verstorbene Frau zeitig genug beigebracht.“ Also Witwer.
„Ja, selbst ist der Mann“, scherzte Gerda.
„Sie würden sich wundern, was ich alles selbst kann.“ Der Jemand warf sich in die Brust und Gerda wartete darauf, mit was er nun angeben würde. Vergeblich. Sie wurde auch abgelenkt, irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Waschmaschine. Geräusche, die sie sonst nicht von sich gab.
„Kann ich Ihnen helfen?“, der Jemand war aufgesprungen, ebenfalls alarmiert von den Geräuschen. Er stürzte zu ihrer Waschmaschine und begann wild mit den Knöpfen zu hantieren. Die Töne nahmen dramatische Höhen an und mit einem gewaltigen „Klack“ war die Sache beendet. Still ruhte Gerdas Wäsche in der Lauge. Der Trockner daneben drehte weiter seine Runden. Gerda erwartete, einen zerknirschten Jemand vor sich zu sehen. Aber nein, siegesgewiss stand der Jemand neben ihrer Waschmaschine. „Das haben wir gleich.“ Wir.
„Ich habe keine Ahnung, wie ich das hinkriegen soll, da muss ich den Technischen Dienst rufen. Oder ich gehe gleich rüber in die Werkstatt.“ Gerda verzichtete darauf, „wir“ zu sagen. Es war ihre Wäsche, auch wenn der Jemand den Zusammenbruch verursacht hatte.
„Aber gnädige Frau, das ist nicht nötig, das kriegen wir allein hin.“ Leider kam ihm keine Entschuldigung über die Lippen. Schließlich … Das sprach gegen ihn. Nach kurzem Nachdenken ließ Gerda ihn aber gewähren. Nur keine Missstimmung aufkommen lassen, schließlich waren sie Nachbarn. Irgendwie.
Der Jemand stand wieder an Gerdas Waschmaschine, Gerda neben ihm, um ihm ein „wir“ zu vermitteln. Sie blickte versonnen auf ihre neuen Schuhe, die sie seit heute trug. Lautlos bediente der Jemand die Knöpfe, die vorher so gekreischt hatten. Fast lautlos öffnete sich die Vordertür der Waschmaschine. Aber die Wäsche gurgelte, als sie sich den Weg aus der engen Maschine in die Waschküche bahnte. Und die neuen Schuhe saugten die Lauge begeistert auf, Wildleder.

Sonntag, 12. November 2017

Vom Lebensmotto


Angesichts der tagelangen Sondierungsspräche fragt man sich: Wird das klappen?
Sophie Lange hat dazu ein Motto für uns: Et het noch immer joot jegange


„Ich habe gelesen, dass Merkel ihr politisches Motto ‚Wir schaffen das‘ auch privat einsetzt“, weiß Onkel Bert in der Familienrunde zu berichten.
„Wie soll ich mir das denn vorstellen?“, überlegt Tante Luzie. Sie lässt ihre Fantasie spielen: Da sieht es in Merkel-Sauers Küche aus wie bei Hempels unterm Sofa. Schmutziges Geschirr von drei Tagen stapelt sich in der Spüle. Ehemann Sauer ist sauer, aber Angela krempelt die Ärmel hoch, spuckt in die Hände und ran ans Werk: Wir schaffen das.
Ja, so ist sie, unsere Angela.  

Dass eine ganze Stadt und ein ganzer Landstrich das gleiche Lebensmotto haben, das gibt es nur bei uns. Hier lautet die Anmerkung zu nichts und allem: „Et hät noch emmer jot jegange“. Als 2009 das Kölner Stadtarchiv einstürzte, tausende wertvolle Annalen vernichtet oder beschädigt wurden, zwei Menschen zu Tode kamen, blieben die Kölner ihrem Motto treu: Et hät noch immer jot jegange. Und wenn man als Fremder irritiert fragte: „Wiesu datt dann?“, kam prompt die Antwort.
„Der Dom steht doch noch.“
Und Jonas kommentierte mit seinem Lebensmotto: „Schlimmer geht immer“. In allem etwas Gutes sehen, das hat schon  die Gruppe Abba in ihrem Song „I believe in angels“ gesungen: „Something good in everything I see.“
Ja, so sind sie, die Optimisten vom Rhein  und anderswo.

In der Eifel setzt man noch einen drauf. Als vor langer Zeit bei einem Großbrand das halbe Dorf abbrannte, soll ein Eifeler Schlitzohr gesagt haben: „Et hät  noch emmer jot jejange – Pastuur si Hus (Haus) es met verbrannt.“ Schadenfreude ist bekanntlich die größte Freude. Wenn es die kleinen Leute trifft, sollen auch die hohen geistlichen Herren nicht verschont bleiben.
Ja, so ist es, das fromme Völkchen der Eifel.

Nun schlug man in der Runde vor, dass jeder sein persönliches Lebensmotto kundtat. Die Jugend war sich einig: No risk, no fun. Die ältere Generation hat die Nase voll von Risiko und von Spaß ebenfalls. Sie hat die Erfahrung gemacht. „Das Leben ist kostbar, gehe vorsichtig damit um.“ Anschließend wurde Einstein zitiert: „Die besten Dinge im Leben sind nicht die, die du für Geld bekommst.“ Johannes,  Patriarch der Familie, hält Geld jedoch für das wichtigste Lebenselixier. So hat er seinem Nachwuchs das Motto eingeimpft: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“
Sein Filius hält es jedoch eher mit der Ironie: „Spare in der Not, dann hast du Zeit dazu.“ Oma Lieschen hat ihren Wahlspruch eingerahmt im Flur hängen: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Wie oft hat sie in ihrem langen Leben sinnend vor diesen tröstenden Worten gestanden!
Ja, so sind sie, die ewig Hoffenden.

Der sangesfreudige Onkel Eduard hat einen alten Schlagertext auf seine Lebensfahne geschrieben: „Sei zufrieden mit dem Heute, wenn es dich auch wenig freut.“ Und schon schmettert er die rührselige Schnulze vom Anfang bis zum bitteren Ende: „Jeder hat doch seine Sorgen, wer nicht Sorgen hat, ist tot.“ Die stets heitere Tante Emma überrascht mit dem Motto aus ihrem Poesiealbum aus Mädchentagen: „Lebe lustig, lebe froh, wie der Mops im Haferstroh.“

Ja, so sind sie, die Lebenskünstler unter uns.




Mittwoch, 8. November 2017

Der heilige St. Martin

Der 11. November ist der Namenstag des heiligen St. Martin

Schon ab dem 7. November ziehen in den Gemeinden, die das Andenken an diesen Heiligen hochhalten, die Martinszüge. Ich erinnere mich sehr gern daran, ich stamme aus Düsseldorf. Aus der Eifel berichtet Sophie Lange darüber


Der Martinsumzug zum 11. November gehört wohl zu den schönsten Kindheitserinnerungen. Stolz marschierten wir mit unserer aus einer Rübe geschnittenen Laterne durch die dunklen Straßen. Aber es gab auch Enttäuschungen. So sangen wir jedes Jahr voller Überzeugung: “Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind ...“ Doch nie fiel je eine einzige Schneeflocke zu Ehren des Heiligen. Wenn wir weiter schmetterten „ ... sein Ross das trug ihn fort geschwind“, so stimmte das auch nicht. Denn der schwere Ackergaul, den der Heilige sich bei einem Dorfbauern ausgeliehen hatte, schleppte sich nach einem harten Arbeitstag mühsam Tritt für Tritt über Stock und Stein. Nichts von einem rasenden Pferdegalopp zu bestaunen. Doch nach dem Umzug durchs Dorf entschädigte ein Weckmann mit Tonpfeife und Korinthenaugen für den fehlenden Schnee und das entfallene Pferdeevent. Sankt Martin höchstpersönlich überreichte jedem Kind einen kleinen Mann aus süßem Weck. Dass man dem Weckmann heute die Pfeife streitig machen will, betrübt das Traditionsmännchen. Es raucht doch gar nicht, es tut nur so.
Mit Inbrunst sangen wir besonders das alte Lied: „Der hellige Zinte Mäten, dat es ne gode Mann.“ Das Lied erinnert an die Zeit, als das Martinsbrauchtum - Umzug und Feuer  -  noch nicht organisiert war. Kinder zogen in kleinen Gruppen durch die Straßen mit ihren „Fackele“. Jugendliche kümmerten sich um lokale Martinsfeuer, wobei es häufig zu Streitereien „rivalisierender Gruppen“ kam. Dann gab es oft wilde Schlägereien. Und nur so ist die Refrainzeile Butzwidibutz - „Butz, wider Butz“ zu verstehen, Schlag wider Schlag, wie du mir so ich dir, Aug um Aug, Zahn um Zahn.  Schon manche harmlose Rauferei ist bei dem Feueranzünden oder der Feuerwache in eine handfeste Prügelei ausgeartet. Schließlich nahmen Lehrer sich des Problems an, organisierten die traditionellen Umzüge und die Martinsfeuer und sorgten dafür,  dass Butz wider Butz-Schlägereien  unterblieben.

Beim Rundgang durch die Straßen erbettelten die Kinder an den Häusern Heischegaben. Dabei trugen sie in einer Art Sprechgesang vor:

Hier wohnt ein reicher Mann,
der uns was geben kann.
Viel soll er geben,
lange soll er leben,
lasst uns nicht zu lange stehn
denn wir müssen weiter gehn.

In einem Bericht der Dichterin Clara Viebig zum Martinsabend am Niederrhein von 1894 sind schon diese Zeilen aufgeführt und sie haben sich bis heute erhalten.

Dass Martin wirklich ein guter Mann war, zeigt sich daran, dass er oft wie in dem obigen Lied doppelt-gemoppelt heilig gesprochen wird, denn Sankt oder Zinte heißt ja nichts anders als der Heilige: Der heilige Heilige Martin. Ja, „ene gode Mann“ kann nie heilig genug sein!

In der Erinnerung singen wir leise vor uns hin:

Der hellige Zinte Mäeten,
dat es ne gode Mann,
der gitt de Kenger Käezche
un stich se selver aan.
Butz butz butzwidibutz,
dat es ne gode Mann;
Der hellige Zinte Mäeten
gitt, wat'e gevve kann.

Der hellige Zinte Mäeten,
der kütt och hück zo us,
dröm go'mer met de Fackele,
et freut sich Kleen un Gruß.
But butz butzwidibutz,
der Summer der es us.
Der hellige Zinte Mäeten,
der kritt de letzte Struuß.

Der hellige Zinte Mäeten,
der rick lans jede Dür
un sähnt do Hus on Hätze
de Früut  en Schobb un Schür.
(Frucht in Schober und Scheune)
Butz butz butzwidibutz
hä brengk et Wenkterfür,
der hellige Zinte Mäeten
hält Minsche wärm un Dier.

Der hellige Zinte Mäeten
kütt immer huh zu Päed;
hä steht en huhe Ihre
em Himmel un ob Äed.
Butz butz butzwidibutz
d'n Düvel trifft sii Schwäet;
der hellige Zinte Mäeten,
der es wal lobenswäet.

Freitag, 27. Oktober 2017

Das ist mein Platz

Wie beschämend ist es, wenn man mit diesen Worten von einem Platz verwiesen wird. Dazu hat Sophie Lange uns eine Geschichte geschrieben.


Gerangel beim Stuhlkreis in der Kita. „Das ist mein Platz“, verteidigen Kinder ihren Lieblingsplatz, direkt neben der besten Freundin oder dem liebsten Freund. Erst ein Spiel bringt etwas Ruhe unter die Kleinen. Die Erzieherin stellt einen leeren Stuhl in die Runde. Das Kind links davon klopft nun auf den Sitz und sagt: Mein rechter Stuhl ist leer, ich wünsche mir...her. Und nennt einen Namen. Das genannte Kind wechselt nun den Platz. Nicht immer gerne. Die Spielregel sagt, dass es wie ein Tier kommen kann, z. B. ein Elefant, ein Känguru oder eine Schlange. Das erleichtert etwas den Platzwechsel. 
Bei der Einschulung dürfen die Kinder sich ihren Platz zwar aussuchen – natürlich neben einem Kind, das sie bereits kennen - aber schon bald ändert die Lehrperson die Sitzordnung, eben so wie sie es für sinnvoller hält. Gar nicht so einfach, seinen Platz selbst zu bestimmen und zu verteidigen, in der Schule, im Beruf, in der Familie, im Leben.
Der Mensch hat seit Urzeiten um seinen Platz gekämpft. Das fing wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt an, als die Menschen feststellten, dass sie Samen in die Erde streuen konnten und neue Früchte heranwuchsen. Nun brauchten sie nicht mehr als Nomaden durch die Weltgeschichte umherzuziehen. Sie wurden sesshaft, suchten sich ein fruchtbares Stück Land auf Mutter Erde aus, Zaun drum herum und: Das ist mein Platz. Wehe, wenn jemand die Grenze überschritt. Dann wurden die Fäuste geschwungen, es gab Streit, Nachbarschaftsstreit
Aber zurück zum Stuhlkreis. Allerdings nicht mehr in die Kita, sondern in die Seniorenstunde im Pfarrheim. Hier hat auch jeder seinen festen Platz und wehe, wenn ein anderer, etwa ein Neuling, sich erdreistet, diesen Platz einzunehmen. Das gibt Zoff in der Bude. Da wackeln die Bilder an den Wänden. „Das ist mein Platz und mein Nebenmann ist und bleibt mein Nebenmann“, pocht eine „Alteingesessene“ mit hochrotem Kopf  und dröhnender Stimme auf ihr Recht. Das ist zwar kein gesetzlich-verbrieftes Recht aber ein Gewohnheitsrecht und das zählt gewohnheitsgemäß doppelt und dreifach.
Nun kann die Gruppenleiterin nicht wie bei den Kleinen zum Spiel aufrufen „mein rechter Platz ist leer,“ - wir sind doch hier nicht im Kindergarten! – sondern appelliert an die Vernunft, die sich ja in einem gewissen Alter einstellt oder zumindest einstellen sollte. Mit etwas Diplomatie ist auch bald Ruhe im Karton, vielmehr im Kreis und friedlich-fröhlich singend beginnt die Seniorenstunde mit dem alten Volkslied:

Wir sitzen so traulich beisammen
und haben einander sooo lieb, ja so lieb.
Wir erheitern einander das Leben,
ach wenn es doch immer so blieb.


Freitag, 20. Oktober 2017

Kastanien in der Hosentasche

Es ist Herbst und hier ist eine weitere Herbstgeschichte
von Sophie Lange

„Hast du etwas verloren?“ Marlies zuckt zusammen. Von hinten hat Susanne sie angesprochen.
„Hast du mich erschreckt.“ Marlies schießt giftige Blicke auf die Ruhestörerin. „Musst du dich immer so anschleichen?“
„Du schaust so gebannt auf die Erde“, entschuldigt sich Susanne und fuchtelt beschwichtigend mit ihrem Gehstock. „Suchst du den Tag von gestern?“
„Mensch, ich suche Kastanien“, erklärt Marlies, noch immer etwas verärgert.
„Da liegen ja hier unter der alten ausladenden Rosskastanie massenhaft 'rum“, schaut Susanne nun auch auf den Boden, und stochert mit ihrer Gehhilfe in einen angewehten Haufen Laub. Es raschelt, es staubt, es riecht nach Erde, nach modriger Herbsterde. Und jede Menge Kastanien werden sichtbar: Manche niedlich-klein wie eine Stachelbeere, andere in der Größe einer Sauerkirsche oder einer Cocktailtomate. Besonders schön sieht eine Frucht aus, die noch halb in ihrer Schale ruht. Ein harter Kern in einer harten stacheligen Hülle!
„Die wird meinen Herbsttisch schmücken,“ greift Marlies mit einer Behändigkeit zu, die man ihr in ihrem Alter gar nicht zugetraut hätte. „Jetzt  brauche ich aber noch ganz schöne, glänzende,“ fährt sie fort.
„Und was willst du damit?“ Susanne ist wie immer neugierig, oder - wie sie es nennt - wissbegierig.
„Die stecke ich in meine Hosen- und Manteltasche, wenn du es genau wissen willst“ macht Marlies kein Geheimnis aus ihrer Suchaktion.  
„Und was soll der Schwachsinn?“ Susanne schüttelt den Kopf.
„Hast du noch nie gehört, dass Kastanien vor Rheuma und Gicht schützen?“ Marlies lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Susanne lacht. „So 'nen Humbug glaubst du doch nicht wirklich!“
Nun sieht Marlies sich genötigt, Aufklärungsarbeit zu leisten. So doziert sie: „Die Rosskastanie ist schon seit dem Mittelalter wegen ihrer heilenden Wirkung bekannt. Die Rinde gilt volkstümlich als Fiebermittel. Und bei Krampfadern werden Kastanien seit jeher eingesetzt.“
„Ja gut, das mag ja stimmen“, rudert Susanne den „Humbug“ etwas zurück, „aber dass Kastanien Heilkräfte entwickeln, nur, wenn man sie in der Hosentasche mit sich rumschleppt - das glaube ich nicht.“ Nach kurzer Gedankenpause muss sie dann jedoch zugeben: „Aber der Glaube soll ja bekanntlich Berge versetzen.“ Und da sie schon einmal dabei ist, zitiert sie gleich ein anderes Bibelwort: „Wer glaubt, wird selig.“ Dabei fällt ihr ein, dass ihre Oma immer sagte: „Wer glaubt wird selig, wer backt wird mehlig.“ Die Erinnerung lässt sie herzhaft lachen.
Marlies findet das gar nicht lustig und erklärt ernst: „In der Hosentasche entwickelt die Kastanie wohltuende Wärme, die Gelenkschmerzen lindert. Außerdem kann man die runde Frucht mit der glatten Oberfläche als „Handschmeichler“ nutzen und in der geschlossenen Hand hin und her drehen. Das beruhigt.“
Marlies bückt sich – mühsam – hebt eine wohl geformte tiefbraune Kastanie auf, reibt sie sorgfältig am Jackenärmel bis sie glänzt wie eine polierte Zauberkugel, betrachtet sie gedankenverloren einige Sekunden lang und steckt sie dann in die Hosentasche.
„Wenn sie nicht helfen“, sagt sie nachdenklich, „so bergen Kastanien in der Hosentasche zumindest keine Risiken und Nebenwirkungen.“
Das überzeugt Susanne und nun sucht sie ebenfalls einige Herbstfrüchte und lässt diese in die Jackentasche verschwinden. Heimlich, verschämt.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Wenn die Kraniche ziehen


Der Lärm kommt näher. Ein Riesenspektakel. Die Großeltern sind mit ihren Enkeln Hannes und Felix auf einem Spaziergang unterwegs. Oma hält sich die Ohren zu. „Oh Gott, das himmlische Strafgericht. Das kommt doch von oben mit Pauken und Trompeten.“ Sie blinzelt in die grelle Sonne. Weiße Gestalten segeln durch die Luft. „Oh Gott, Engel, jede Menge Engel“, kreischt Oma. 
„Nun lass Gott aus dem Spiel und die Engel auch“, beruhigt Opa. „Das sind Kraniche, Hollergänse sagen wir hier in der Eifel dazu. Sie fliehen vor der Kälte in den warmen Süden.“
„Woher wissen die Vögel denn den Weg?“, will der 10jährige Hannes wissen. „Da oben stehen doch keine Wegweiser.“
Der Opa erklärt gerne: „Hauptsächlich orientieren sie sich an unterirdischen Magnetlinien. Dann beobachten sie aber auch den Sternenhimmel mit dem Polarstern sowie die Sonnenauf- und untergänge. Außerdem merken sie sich Gebirgszüge, die in Nord-Südrichtung verlaufen. Und dann ist da noch der Heimatinstinkt, der schon manchem Tier den Weg nach Hause finden ließ.“ Die Kinder nicken. Solche Geschichten haben sie schon über Hunde und Katzen gehört. 
„Und wieso hat der Mensch nicht so einen Instinkt?“, wundert sich der kleine Felix.
„Eine gute Frage“, antwortet Opa. „Vielleicht hat der Neandertaler noch instinktiv zu seiner Höhle zurückgefunden. Heute braucht der Mensch Landkarten, Straßenkarten, Routenpläne und Navigationsgeräte, um sich zurecht zu finden.“
Felix weiß aber auch: „Mama hat ein Navi im Auto und verfährt sich trotzdem immer.“ Das will nun niemand kommentieren. 
Oma weiß etwas aus ihrer Kindheit zu berichten. „Wir haben den Vögeln immer zugerufen: Krunekrane, wisse Fahne! Es sieht doch tatsächlich so aus, als wenn zig Fahnen im Wind wehen.“ Den Ruf probieren die Kinder nun gleich aus. Sie winken den Reisenden der Lüfte zu: „Krunekrane, wisse Fahne, Krunekrane, wisse Fahne...“
Und Oma fällt mit ein: „Krunekrane wisse Fahne...“ 
„Anfang Oktober ist eigentlich noch zu früh für den Kranichzug,“ überlegt Opa. „Nach altem Wetterglauben zeigt das einen frühen und strengen Winter an. Die eigentliche Flugzeit setzt man zwischen den 20. Oktober und den 10. November fest. Aber Kraniche haben ihr spezielles Timing.“ Oma kennt eine andere Wetterregel: „Man soll beim ersten Kranichflug die Vögel zählen. Ihre Anzahl sagt voraus, wie viele Sonnentage der Herbst bringt.“

 Das ist nun ein Stichwort für die Kinder. Sie laufen dem Zug hinterher. „Eins, zwei, drei“, zählen sie die keilförmige Spitze. „Vier, fünf...“ geht es dann die grade Linie weiter. Doch sie sind kaum bei 15 angekommen, als Leben in den bisher ruhigen Zug kommt. Einige Vögel lösen sich vom Ende, überholen links – wie sich das gehört – und drängen sich rücksichtslos irgendwo vorne dazwischen. Das lassen die „Betroffenen“ sich nicht gefallen. Wildes Gewusel und aufgeregtes Gezeter!
„Jetzt sind wir durcheinander gekommen“, ärgern sich die Kinder.
„Schade!“ bedauert die Oma. „Jetzt wissen wir nicht, wie der Herbst wird.“
„Zumindest ist aber schon der kommende Winter geklärt“, erinnert Opa. 
Aber das will jetzt noch niemand so genau wissen.
von Sophie Lange


Samstag, 23. September 2017

Er rollt und rollt - der Rollator

„Niemals!“, sagte Opa Heinrich und schlug mit der Faust auf den Tisch. 
„Aber warum denn nicht?“ Die Enkelin bemühte sich um einen ruhigen, sachlichen Ton. „Alle loben den Rollator als die Erfindung des Jahrhunderts.“ 
 Das war vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber seit die gehbehinderte Schwedin Aina Wifalk 1978 den Rollator in der modernen Form geschaffen hat, hat dieser eine steile Karriere durchlaufen. Denn er ist eine echte Erleichterung und trägt viel zur Mobilität von alten Menschen bei. 
 „Der Arzt hat ihn dir doch wegen deiner Knieschmerzen empfohlen und wenn er ihn verschreibt, bezahlt ihn sogar die Krankenkasse. Wenigstens zum Teil.“ 
“Niemals!“, donnerte Heinrich. „So ein Fahrgestell ist etwas für alte Leute. Für Greise.“
„Und du bist mit deinen 85 Jahren noch nicht alt?“ Die Geduld der Enkelin war langsam erschöpft. 
 „Ich bin auf jeden Fall nicht so alt, dass ich mich mit so einem Ding lächerlich mache.“ 
 „So ein Quatsch!“ Die Enkelin fächerte mit einigen Blättern, die sie im Internet ausgedruckt hatte, vor Opas Gesicht. „Hier steht, dass allein in Deutschland im Jahr 2016 bis zu drei Millionen mit einem Rollator unterwegs waren. Inzwischen sind es bestimmt noch mehr. Und alle sind zufrieden – und niemand macht sich lächerlich.“ 
 „Das sind bestimmt alles „alte Wiever“. Zu denen passt so ein Kinderkram.“ Opa schnaufte. „Aber nicht zu staatse Männ in den besten Mannesjahren.“ Er warf sich in die Brust.
Die Enkelin musste zugeben, dass es in der Stadt meist Frauen waren, denen man mit dem Rollator begegnete. „Aber nur, weil die Männer nicht zu ihrem Alter stehen. Und eitel sind!“ Bevor Opa sich wieder aufregte, verließ sie rasch das Zimmer. Bloß keinen Streit eskalieren lassen. 
 Etwas später verließ Opa mit seinen zwei Gehstöcken das Haus. Er brauchte frische Luft. Mühsam schleppte er sich bis zum nahen Park und ließ sich erschöpft auf die erste Bank nieder. Das verdammte Knie! 
 Plötzlich stand ein Mann vor ihm. „Hi Heinrich, altes Haus“, grüßte dieser lässig den ehemaligen Kollegen. Heinrich kriegte vor Überraschung zuerst den Mund nicht auf und dann nicht zu. Der Ex-Kollege stützte sich doch tatsächlich auf einen Rollator. „Mein Mercedes“, stellte er grinsend vor. Und schon erläuterte er Bremsen und Lenkmanöver, Leichtigkeit und Standfestigkeit, Transport und Zusammenklappen . „Das Schönste jedoch ist, dass mich laufend Damen mit Rollator ansprechen und die lade ich dann ein - und dann – wie das halt so ist im Alter.“ „Und dann?“ Heinrich war neugierig geworden. Stille. Der Kavalier genießt und schweigt. „Nun sag schon“, bat Heinrich jetzt. „Also gut. Dann, dann rollen wir gemeinsam durch den Park.“ 
 Die beiden Männer beschlossen, ihr Zufallstreffen in einem nahen Café zu beschließen. Und dort kam Heinrich nicht aus dem Staunen heraus. Hier schien ein richtiges Rollatoren-Treffen zu sein. Mehrere Damen hatten ihr Vehikel abgestellt und schlürften selig ihren Kaffee. Und alle kannten den Kollegen, grüßten, winkten ihm zu. Die Damen waren zwar nicht mehr taufrisch, aber alle waren gut drauf. 
„Bist du schon mit all diesen Damen gerollt?“ staunte Heinrich. Der Kollege grinste und schwieg
Als Heinrich nach Hause kam, war die kleine Auseinandersetzung von vorhin vergessen. Die Stimmung schien gelockert, und Heinrich war es auch. So ganz nebenbei meinte er zu seiner Enkelin: „Ich habe mir das nochmal überlegt mit dem Rollator. Wäre vielleicht gar nicht so verkehrt.“
Woher dieser Sinneswandel kam, verriet er allerdings nicht. Der Kavalier genießt und schweigt.
Sophie Lange





Sonntag, 17. September 2017

Frau Dingsda

Es ist ein milder Abend nach einem heißen Tag. Den will Mariechen noch genießen, setzt sich auf die Bank vor dem Haus und träumt vor sich hin. Doch bald ist es aus mit der Ruhe. Die Nachbarin steht vor ihr und reißt sie aus ihren Träumen. Und schon schnattert diese los. Alles so ein Tratsch aus der Nachbarschaft. Mariechen schaltet auf Durchzug.
Heute habe ich in der Stadt die Frau – ähm – die Frau Dingsda getroffen. Weißt du, die früher im Eckhaus gewohnt hat.“ Ja, Mariechen erinnert sich. Die trug noch immer eine Kittelschürze, als diese schon lange aus der Mode war. „Wie heißt die denn noch mal?“, will die Nachbarin wissen. Mariechen überlegt, aber ihr will der Name nicht einfallen, obwohl sie ihn sicher hundert Mal gesagt hat.
Ach diese Plage, dass man immer die Namen vergisst“, seufzt die Nachbarin.
Das hat mit dem Alter zu tun“, erklärt Mariechen. „Da wird man vergesslich."
Nee, nee“, wehrt sich die Nachbarin. „Mein Neffe ist kaum 40 und der vergisst auch immer alle Namen. Er muss sich diese stets aufschreiben.“ Beiderseitiges Kopfnicken. „Mir liegt der Name auf der Zunge!“, wieder die Nachbarin, “aber er will nicht raus.“Hieß die nicht Frau Groß“ kramt Mariechen in ihrem Gedächtnis.
„Nee, nee“, die Nachbarin wieder. „Die ist zwar groß, aber die heißt nicht Groß. Ganz bestimmt nicht!“
Die beiden Damen wechseln das Thema. „Was kommt denn heute im Fernsehen?“ Gemeinsames Überlegen.
Spät am Abend. Mariechen hat Fernsehen geguckt. Irgendeinen Krimi. Wie hieß der doch gleich? Ist ja auch unwichtig. So was muss man sich nicht unbedingt merken. Das weiß das Gehirn ganz genau und legt die Information auf Eis in irgendeiner Gehirnecke. Mariechen brüht sich ihren Schlaftee auf und setzt sich gemütlich auf die Couch. Da geht das Telefon. Wer ist das denn noch!
Sie nimmt den Hörer ab und da tönt es ihr auch schon lautstark entgegen. „Ich bin et nur!“ Die liebe Nachbarin.
„Ist was passiert“, fragt Mariechen erschrocken.
„Nee, nee, aber ich weiß jetzt wie die Frau vom Eckhaus heißt. Ist mir eben eingefallen.“ Und sie beginnt wieder ihr Parlieren im Schnelltempo. „Also, ich war noch ein paar Teller am abwaschen am tun, dachte an dies und das oder besser gesagt an gar nix, da macht es plötzlich klick und da fiel mir der Name schnaggewesch wieder ein.“
Ja, das Gehirn arbeitet weiter, kramt in allen „Schubladen“, in denen irgendwelche unwichtigen Dinge abgelegt wurden und dann - plötzlich – schwupps, alles klar. Ja, verloren geht nichts im Kopf.
Und wie ist der Name“, will Mariechen nun endlich wissen. „Sag schon, mach et nit so spannend."
Die Nachbarin macht eine Pause, es muss ja richtig spannend sein und erst nach einigem Räuspern gibt sie das Geheimnis preis: „Die heißt Kleinschmidt!“
Kleinschmidt“, wiederholt Mariechen. „Ja richtig! Kleinschmidt! Ich habe ja gleich gesagt, dass es etwas mit „Groß“ zu tun hat."
Sophie Lange

Freitag, 21. Juli 2017

Alte Freundinnen


Johanna saß in der Cafeteria, sie hatte einen Salat bestellt, weil sie zu faul war, sich selbst ein Abendessen zuzubereiten. Außer ihr saß hier und da eine einsame alte Dame oder ein einsamer alter Mann. Auch schon mal zwei Herren, die sich wortkarg unterhielten. Sie kannte die anderen nur vom Sehen. Man begrüßte sich freundlich beim Hereinkommen und wünschte sich einen guten Appetit. Ob den alle hatten? Johanna eigentlich auch nicht, aber einen Salat kann man ja immer essen, auch ohne.
Es war ganz still in dem großen Raum – bis die beiden Freundinnen hereinschneiten und mitten im Raum an Tisch fünf Platz nahmen. Das Abendessen mussten sie nicht bestellen, das wurde schnell gebracht, sie haben ein Abendessen-Abonnement. Offensichtlich jeden Abend zu faul, sich etwas zu machen.
Heute Abend war es ein Pfannkuchen, gefüllt mit Champignons in einer Soße, dazu ein bisschen Salat.
„Mir schmeckt das gar nicht“, sagte Ilse.
„Aber wieso, ist doch lecker“, sagte Marianne.
„Für dich vielleicht, ich mag es nicht.“ Pause.
„Hallo, hallo Bedienung“, rief Ilse.
„Ich komme. Was gibt es denn?“
„Ich mag das Essen nicht.“
„Tut mir leid.“
„Ich möchte was anderes, ein Butterbrot vielleicht.“
„Tut mir leid, aber das hätten Sie eher sagen müssen.“
„Wieso?“
„Sie haben doch schon mit dem Essen begonnen.“
„Ja, aber ich mag es nicht.“
„Ich kann Ihnen natürlich belegte Brote bringen, aber die müssen Sie dann extra bezahlen.“
„Wieso?“
„Weil es im Abonnement entweder das vorgesehene Essen gibt oder aber Butterbrote, beides gibt es nicht für dasselbe Geld.“
„Das finde ich nicht richtig.“ Pause. Aufmerksame Stille an den anderen besetzten Tischen.
„Was wollen wir denn nun machen?“, fragte die Bedienung, immer noch höflich.
„Ich weiß es nicht.“
„Ich kann Ihnen Brote bringen, aber nicht umsonst.“
„Das finde ich kleinlich. Gut, dann esse ich den Pfannkuchen, obwohl er mir überhaupt nicht schmeckt.“
„Wie Sie wollen“; sagte die Bedienung und flüchtete. Schweigen an Tisch fünf.
Johanna schmunzelte vor sich hin. Sie hatte schon öfter Gespräche zwischen den beiden Freundinnen mitbekommen. Eine von beiden war schwerhörig.
„Weißt du, dass Isoldes Tochter demnächst heiratet?“
„Ach. Na, das wurde aber auch Zeit. Die ist doch bestimmt schon an die dreißig.“
„Mindestens.“ Pause. „Sie heiratet in weiß.“
„Und das bei der Figur.“
„Weißt du, Marianne, ich hatte ja schon als zwölfjähriges Mädchen einen solch üppigen Busen wie jetzt.“
„Ach, ich nicht, ich war platt wie ein Brett, und so ist es geblieben.“ Aufmerksame Stille an allen Tischen. Johanna konnte nicht glauben, was sie da hörte.
„Aber da gibt es doch Möglichkeiten, Ilse.“
„Ja, natürlich, ich habe immer Blusen mit Rüschen getragen und darunter, weißt du …“ Es folgte eine intensive Einführung in die Möglichkeiten, aus nichts etwas zu machen. Johanna wagte einen Blick in die Runde und sah, dass besonders die beiden Herren, die nahe am Tisch der Freundinnen saßen, total verstummt waren.


Ein paar Tage später erfuhr Johanna bei einem weiteren Essen in der Cafeteria, dass aus der Hochzeit in weiß nichts wird – der Bräutigam war irgendwann aus der Kirche ausgetreten. Aus welcher, erfuhr sie allerdings nicht.
Anne Poettgen

Freitag, 16. Juni 2017

Musenhof am Kirchberg


Im Haus am Kirchberg wird KULTUR ganz groß geschrieben. Die Musen gehen ein und aus. Sie bevorzugen den Großen Salon, nehmen aber auch mit der Cafeteria vorlieb. Polyhymnia zum Beispiel sorgt regelmäßig für die Kirchbergkonzerte. Einmal im Monat kommen Studentinnen oder Studenten der Musikhochschule Düsseldorf und erfreuen die Musikbeflissenen mit Stücken am Flügel. Sie kommen seit fast dreißig Jahren, zugegebenermaßen immer wieder neue Generationen. Und ebenso zugegebenermaßen Könner ihres Fachs. Nur - hin und wieder ist ihnen der Flügel nicht gewachsen, auch er bei Jahren. Und die Bücherwand im Gro0en Salon mit der Bibliothek des Hauses schluckt ehrlich gesagt manchen Ton. Den Musikbeflissenen scheint das nichts auszumachen, die Liebhaber, na, ja …

Manchmal blinzelt und zwinkert Polyhymnia ein bisschen und macht Kompromisse – wer zahlt, bestimmt. Dann glaubt man sich in die weiten Steppen Ungarns versetzt – Klavier oder vielmehr Flügel und Flöte. Mal lässt sie die Fiddle eines Iren hören. Pünktlich zu den weißen Nächten erklingen russische Melodien unter dem Titel „Vom Zauber der Petersburger Nächte.“ Diesmal Piano, pardon Flügel und Klarinette. Meine persönliche Meinung – gekonnt. Es darf auch mal ein Chanson-Abend sein. Und für die älteren Damen und Herren – also für alle – werden Schlagermelodien aus ihrer Jugendzeit geboten. Sogar Tote werden zum Leben erweckt: Zarah Leander mit dem Programm „Eine Frau wird erst schön durch die Liebe“. Was die eine oder andere anzügliche Bemerkung bei gewissen Herren hervorruft. Denken Sie, was Sie wollen.

Kaliope sorgt dafür, dass das gesprochene Wort nicht zu kurz kommt. Im Großen Salon finden Lesungen statt, vor der prächtigen Kulisse der zahlreichen Bücher aus den Relikten der Bewohner. Ein scharfes Auge entdeckt da schon mal drei Simmel nebeneinander, Johannes Mario, drei gleiche Bände.
Hundertste oder zweihundertste Geburtstage deutscher Dichter und Denker werden gern zum Anlass genommen. Auch schon mal ein Todestag. Oder gar kein Anlass, sondern nur so: Thomas Mann mit seinem Felix Krull oder – Düsseldorf liegt nahe – Heinrich Heine. Aber es gibt auch hier schon mal leichtere Kost. Die Lesungen werden regelmäßig durch Zurufe unterbrochen, nicht von Begeisterungsrufen, sondern eher von Hilferufen: lauter bitte.
Wenn die Bewohner schön artig sind – ach, was rede ich denn da – also: Manchmal gibt es Krimilesungen. Die Hoffnungen der Autoren, dass der eine oder andere Krimi gekauft wird, werden regelmäßig enttäuscht. Da hilft es auch nicht, wenn das Signieren der Werke angeboten wird.

Bleiben wir beim Thema Krimi. Melpomene sorgt einmal im Jahr für ein Krimidinner, also einem Abendessen mit Theater. Mit viel Fantasie werden Gerichte zum Thema erfunden, viel rot wird aufgeboten.  Begrüßungscocktails aus rotem Obstsaft mit Schuss, Tomatensoße wo möglich. Ich erinnere mich an ein Hühnerbein, das hilfesuchend aus einem Glas mit scharfem Tomatensaft ragte. Eine Theatergruppe führt ein Stück mit wenigen Mitwirkenden auf, die im Laufe des Abends noch weniger werden.

Und siehe da, auch Urania kommt zum Zuge. Nicht weit entfernt vom Haus am Kirchberg gibt es ein kleines aber feines Planetarium. Hin und wieder wird eine Expedition dorthin angeboten, allerdings nicht, ohne dass darauf hingewiesen wird, dass das nur etwas für Schwindelfreie ist. Man liegt nämlich hingegossen in bequemen Sesseln, Kopf in den Nacken, und oben saust der Sternenhimmel über einen hinweg. Schwindel garantiert.

Filmvorführungen müssen logischerweise ohne die Hilfe einer Muse stattfinden, es sei denn, man arbeitet mit der Methode „reim dich oder ich fress dich“. Dann könnte man Thalia zu Hilfe nehmen, die Muse der Komödiendichtung. Was aber nicht passt, wenn es einen Film über das Aussterben der Eisbären oder das Abschmelzen der Gletscher gibt. Normalerweise geht es erbaulicher zu. Viel schöne Natur, viel schöne Ruinen, schöne Ozeandampfer – mit tollen Büffets, auch schön. Da werden Erinnerungen wach und die Stimmung ist gut. Oder man schlummert selig ein.



.

Dienstag, 9. Mai 2017

Abwechslung um jeden Preis


„Hallo Margret, du siehst aber recht mitgenommen aus. Was ist los?“ Johanna saß bereits am Tisch in der Cafeteria, ihre weißen Haare glänzten in der Sonne. Margret sank langsam auf einen Stuhl und seufzte.
 „Allerdings,“ murmelte sie.
„Erzähl mal“, sagte Irmtraud, die auch schon Kaffee und Kuchen vor sich stehen hatte.
„Neun Uhr dreißig Sitzgymnastik mit Musik im Gymnastikraum.“
„Schön, hab ich auch mal gemacht“, bekannte Gerda und nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Du? Wirklich? Hätte ich nicht von dir gedacht.“ Johanna wunderte sich, so kannte sie Gerda gar nicht.
„Wieso, was hast du gegen Sitzgymnastik, zu spießig?“, antwortete die. Und Margret fragte spitz: „Ist dir wohl zu simpel?“
„Nun mal mit der Ruhe, keinen Streit wegen Sitzgymnastik, meine Lieben.“ Irmtraud pochte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch. Sie war das Haupt und der Mittelpunkt der kleinen Gruppe von älteren Damen, die im Haus am Kirchberg wohnten und sich ab und zu bei Kaffee und Kuchen in der Cafeteria des Hauses trafen.
Johanna kam zu ihrer Frage zurück und meinte: „So stressig ist es aber doch wirklich nicht.“
„Nein, natürlich nicht – aber anschließend um zehn Uhr Nordic Walking“, sagte Margret in leidendem Ton.
„Na, ja, Geschmackssache, sieht irgendwie unelegant aus.“ Irmtraud, auch zuständig fürs Elegante, was man an ihrer erstklassigen Garderobe ablesen konnte. Außerdem exzellenter Haarschnitt. Düsseldorfer Friseur natürlich.
Den anderen war anzusehen, dass auch sie es unelegant fanden.
„Eigentlich hätte ich jetzt gerade im Gedächtnistraining sein sollen,“ fügte Margret noch an und orderte erst einmal einen Cappuccino, zufrieden mit dem Gedanken, dass sie mal wieder schwänzte. Aber dieser Kaffeeklatsch war ihr wichtig.
„Ach verflixt, das habe ich total vergessen, ich auch,“ rief Johanna und machte Anstalten aufzustehen.
„Zu spät“, sagte Margret. Und Susanne musste unbedingt eine ihrer Spitzen loswerden:
„Wozu Gedächtnistraining? Anscheinend doch für die Katz.“ Johanna nahm’s nicht so ernst, sank wieder auf den Stuhl zurück und lachte. „Na, dann morgen Vormittag.“
„Kann man denn von einer Gruppe in die andere wechseln?“, fragte Irmtraud.
„Nein, das wohl nicht, aber ich geh immer in beide.“
„Ach,“ sagte Irmtraud nur. Und Susanne grinste.
Margret fragte: „Wieso Gedächtnistraining, ich hab dich da noch nie gesehen.“
„Kannst du auch nicht, denn du bist wohl um drei Uhr bei Frau Maierling und ich um drei Uhr dreißig bei Herrn Überall.“
„So viel Gedächtnistraining an einem Tag?“, fragte Susanne.
„Täglich irgendwann und irgendwo. Mal nur für Damen, mal nur für Herren, mal gemischt.

 „Hat jemand von euch denn schon mal beim kreativen Arbeiten mitgemacht?“, fragte Irmtraud. „Ich wollte immer mal beim Mandalamalen einsteigen, aber um elf Uhr morgens bin ich noch nicht in der richtigen Stimmung. Da langt es allenfalls für Atem- und Entspannungsübungen, das tut wirklich gut.“ Irmtraud setzte an, die Übungen zu demonstrieren, fand es dann aber wohl zu unelegant. Wollte keinen Anlass zu kritischen Bemerkungen bieten.
„Früher gabs ja mal einen Kurs in Seidenmalerei, ich hab noch reichlich Schals in der Schublade. Müsste ich mal wieder hervorholen.“ Johanna guckte wehmütig und griff nach dem Schal, den sie um den Hals trug, der sah allerdings nicht selbstgemacht aus, eher designermäßig.
A propos Sitzgymnastik“, Margret griff das Thema wieder auf.
„Ja? Gibt’s da was Neues?“, fragte Johanna.
„Einmal Krankenhaus: Sturz, und einmal Essen in der Wohnung: Grippe.“
„Ja, der Schwund ist groß“, resümierte Irmtraud.
„Aber wenigstens kommen die wieder“, versuchte sich Margret in Optimismus.
„A propos Sturz, ich war mal eine Zeit bei der ‚Sturzprävention‘, Donnertagnachmittag. Kollidierte dann leider mit meiner Runde Rummicub.“
Gerda sah plötzlich nach Aufbruchstimmung aus. „Genau wie jetzt – ich muss los.“

Enttäuscht blieben die vier restlichen Damen zurück. Schweigen breitete sich aus, es hatte was Meditatives. Bis Susanne aufschreckte und rief: „Wisst ihr, wer gestern beim Dart gewonnen hat?“
„Dart? Nein, nichts für mich – meine Augen“, Johanna war auch mehr die Intellektuelle und anscheinend nicht neugierig.
„Ja, wer denn?“, fragte Margret.
„Herr Müller-Reinshagen.“
„Was? Na, der ist aber sportlich, der kegelt doch auch.“ Gerda hatte es auch mal versucht, angestiftet von eben jenem Herrn Müller-Reinshagen. Es war ihr zu dunkel gewesen in der Kegelbahn und zu laut, nix für sie. Sie hatte es lieber hell und ruhig.
„Nicht nur das, den sieht man auch im Billardzimmer.“ Irmtraud wohnte im Haupthaus und kam immer an diesem Raum vorbei, wenn sie in die Halle wollte.
„Und das letzte Sportfest hat er auch organisiert.“ Daran erinnerte sich Gerda.
„Sportfest, was soll das denn gewesen sein?“, fragte Susanne, die Kritische.
„Mit Bällchen und mit Ringen werfen und dazwischen isotonische Getränke, damit auch alle durchhielten.“ Gerda sah Susanne an und beide lachten lauthals.
„Hans Dampf in allen Gassen, der Herr Müller-Reinshagen, der ideale Bewohner dieses Hauses.“



Sonntag, 16. April 2017

Höllenfahrt


Susanne hatte fast fünf Minuten auf den Aufzug gewartet. War von einem Fuß auf den anderen getreten. Um diese Zeit, kurz vor der Mittagsmahlzeit, war das keine Seltenheit. Aber es trübte die Stimmung immer aufs Neue. Von der siebten Etage zu Fuß bis ganz unten zum Speisesaal, das wollte sie ihren Knien nicht zumuten.
Der Aufzug war dann ganz leer und sie ging gleich durch bis an die hintere Wand. Er würde nicht leer bleiben. Schnell noch ein Blick in den Spiegel, ja, die Bluse saß und die Frisur auch.


Auf der sechsten Etage wartete das Ehepaar Schmidt-Schleiermacher, sie im Rollstuhl. Beide hocherfreut über so viel Platz. Ungewohnt um diese Zeit. Manchmal hatte der Aufzug Launen und brachte Leute von den unteren Stockwerken nach oben, obwohl sie eigentlich alle nach unten zum Mittagsessen wollten. Man begrüßte sich freundlich. Susanne machte eine Bemerkung über den schicken roten Pullover und fragte nach dem Befinden. Mäßig, wie immer.  

Fünfte Etage: zwei Damen samt Rollator, beide. Sie beklagten sich lautstark, dass sie so lange hatten warten müssen. Die Insassen zu begrüßen, wie es eigentlich üblich war in diesem vornehmen Haus, ersparten sie sich heute. Schmidt-Schleiermachers und Susanne sahen sich an: was will man auch erwarten … Nicht alle hatten ihr Niveau. Der Fahrstuhl setzte sich mit Verzögerung in Bewegung, weil Frau Marbach unbedingt sofort ihren Rollator drehen wollte, halb auf der Schiene des Aufzugs. Der stieß ein mahnendes Fiepen aus, ungehört. Frau Stein, die zweite Dame, schob sich schweigend neben den Schmidt-Schleiermacher-Rollstuhl.

Vierte Etage: Herr Lautstark, Susanne murmelte den Spitznamen und wartete gespannt. Und tatsächlich: „Würden Sie sie bitte den Rollator so stellen, dass auch ich noch hinein passe?“ Laut, weil schwerhörig, ergänzte Susanne bei sich. Frau Marbach ruckelte an ihrem Gerät, es tat sich nichts. „Wie blöd kann man sein – Sie müssen in der Mitte hochziehen, dann klappt er zusammen.“ Der Rollator.
„Wie reden Sie denn mit mir?“ Frau Marbach war zu recht empört und stellte ihre Bemühungen ein. Der Aufzug ließ wieder sein mahnendes Geräusch hören, gefühlt viel schriller als eben. Herr Lautstark stand voll auf der Schiene, griff jetzt nach der Schlaufe auf dem Rollator von Frau Marbach und brachte ihn tatsächlich in eine Position, die ihm, dem Herrn Lautstark erlaubte, in den Aufzug hinein zu kommen. „Guten Tag, meine Herrschaften, was gibt’s denn da zu glotzen?“ Laut. Alle richteten sofort ihre Blicke zu Boden – Streit mit Lautstark – nein, danke. Man war nun zu fünft. Herr Lautstark hatte reichlich Platz. Wer wollte schon mit ihm in Tuchfühlung sein.

Dritte Etage: Frau Klein mit Krücken. „Würden Sie bitte etwas Platz machen, Sie sehen doch, dass ich behindert bin.“ Ja, das sah man, aber wie sollte man sich aufstellen, damit Frau Klein samt Krücken Platz hatte?
„Frau Marbach, sie könnten Ihren Rollator drehen und der Rollstuhl, kann der nicht noch etwas weiter nach hinten?“ Offensichtlich war Frau Klein ans Kommandieren gewöhnt. Der arme Mann, dachte Susanne. Und schrie auf: „Halt, meine Füße.“ Der Rollstuhl war mit einem Ruck bewegt worden. Herr Schmidt-Schleiermacher war nicht der Übeltäter.
„Stellen Sie sich nicht so an“, zischte Frau Klein. Sie lehnte sich jetzt bequem an die Wand, die Krücken zur Abwehr vor ihrem Bäuchlein versammelt. Bäuchlein, so nannte sie, was andere eine Wampe nannten. So etwas fiel Susanne ein, die Sinn für Gemeinheiten hatte.

An der zweiten Etage hielt der Aufzug ein weiteres Mal. Herr Bergmann, ein etwas schüchterner grauhaariger Mann, versuchte, einen Platz zu ergattern. Die schräg gestellten Krücken hinderten ihn daran.
„Warum müssen Sie unbedingt mit diesem Aufzug fahren, Sie haben doch dahinten einen weiteren auf dieser Etage. Zu faul die paar Schritte zusätzlich zu laufen.“ Frau Klein war nicht zu bremsen. Der schüchterne Herr Bergmann wisperte: „Der Aufzug ist kaputt.“ Keine Entschuldigung von Frau Klein. Herr Lautstark nickte ihr zu.
 
Und auf der ersten Etage: Frau Angenfort, gut gelaunt wie immer. „Da sind wir ja wieder alle zusammen. Ja, wenn es an die Krippe geht.“ Sie lachte fröhlich. Niemand sonst.

Erdgeschoß. „Na dann wünsche ich guten Appetit.“ Frau Angenfort, immer noch gut gelaunt und freundlich, verließ den Aufzug als Erste und nahm Kurs auf den Speisesaal. Frau Klein hatte ihre Krücken in Position gebracht, dem schüchternen Herr Bergmann gelang gerade noch der Sprung aus dem Aufzug. Herr Lautstark, oh Wunder, ließ Frau Klein mit einer höflichen Geste den Vortritt. Die ließ sich Zeit, versperrte breitkrückig den Weg, so dass Frau Marbach keine Möglichkeit hatte, ihren Rollator in Stellung bringen. Man sah ihr deutlich an, dass sie versucht war, dem vor ihr stehenden Herrn Lautstark in die Hacken zu fahren. Da man sich kannte, verkniff sie sich die kleine Rache, drehte sich um und grinste Susanne an. Die stand immer noch auf ihrem hinteren Platz, festgenagelt vom Rollstuhl, der seinerseits noch nicht in Richtung Ausgang bewegt werden konnte.
Frau Schmidt-Schleiermacher hatte die Augen geschlossen, sichtlich entnervt. Warum mussten sie auch auf der sechsten Etage wohnen – jeden Tag die gleiche Höllenfahrt.