Es war still im Wald, kein Laut, kein Geräusch in dem Tal, das der Volksmund „im Paradies“ nennt. Eine heilige Stille oder eine unheimliche Stille? Und doch war da ein geheimnisvolles Flüstern, ein fremdartiges Wispern. Es schien hoch oben aus den Baumwipfeln zu kommen. Oder noch höher aus unvorstellbaren Sphären, fern von Raum und Zeit.
Es war die Zeit zwischen den
Jahren vom 24. Dezember bis 6. Januar und in dieser Zeit der 12 Raunächte
geschieht so allerhand Mysteriöses zwischen Himmel und Erde. So wurde aus dem
Flüstern allmählich ein Säuseln und
Rascheln, ein Sausen und Brausen, ein Raunen und schließlich ein
durchdringendes Spektakel. Dann ein schrilles Gekreische und ein ausgelassenes
Getöse. Jetzt war es klar. Es wurde zur wilden Jagd aufgerufen. Einen Flashmob
würde man das heute nennen, ein Treffen, zu dem in den sozialen Netzwerken
aufgerufen wird und zu dem sich immer mehr Menschen einfinden. Doch es waren
keine Menschen, die da polternd in den Lüften zusammenkamen, sondern Geister,
alles was die Geisterwelt zu bieten hat.
Zunächst war da ein stolzer
Ritter auf einem noch stolzeren Ross. Wotan höchstpersönlich, der germanische
Gott und Heeresführer; ihm zur Seite ruhmreiche Ritter, wilde ewige Jäger,
grausige Höllengeister, knochenbleiche Schreckgespenster, gefräßige Werwölfe,
teuflische Nachtmahre, gefallene Engel sowie Dämonen mit blutroten funkelnden
Augen. Es folgte die große Schar der unerlösten Seelen, die Untoten, die sich
mit stampfenden Beinen und rudernden Armen von der Erde in den Himmel
hochschraubten.
Zwischen den Geistern treiben
einige tierische Ungeheuer ihr Unwesen:
kläffende schwarze Hunde, heulende Rauhnachtswölfe, grässliche Geistergäule, furchteinflößende Drachen und
Einhörner, krächzende Raben, Monster aller Couleur. Peitschen knallen, Befehle bellen, ein
Gekreische und Geschreie, die reinste Kakofonie.
Und dann erscheint sie: die
Göttin in Himmel und auf Erden: Frau Holle, die Perchte, mit ihrem Frauenheer,
unüberschaubar groß: verzauberte Prinzessinnen in rauschender Seide, wilde
Amazonen auf feurigen Rossen, furchterregende Hexen auf sperrigen Besenstielen,
bereit zum gestelzten Lufttanz. Wotan begrüßt die Göttin und ihr Gefolge
ehrfurchtsvoll.
Die Unruhe wird immer
ungezügelter und endlich bei der ersten fernen Dämmerung gibt Wotan das Zeichen
zum Aufbruch. Die wilde Jagd beginnt. „Im Paradies“ wird die Luftstille zu
einem Wind, der Wind entwickelt sich zum Sturm, die Sturmböen explodieren in
einen Orkan. Das wilde Heer jagt über den Himmel, lässt die Erde erbeben, die
Menschen erzittern.
Einige Späher beobachten
genau, was sich auf der Erde tut. Halten die Menschen sich an die uralten
Überlieferungen, die in der Zeit vom 24. Dezember bis 6. Januar beachtet werden
müssen? Erstes Gebot: Absolute Ruhe! Alle Aktivitäten haben zu unterbleiben.
Die Geister haben allein das Sagen. Die Menschen sollen das alte Jahr
überdenken und sich auf das neue Jahr vorbereiten. Doch da! Da spaltet doch
tatsächlich ein Mann Holzscheite auf dem Holzklotz. Einige Geister erhalten
einen Wink von Wotan und schon sausen sie runter zur Erde, umkreisen den Mann
mit Gebrüll, reißen ihm die Axt aus der Hand, den Hut vom Kopf. Er flüchtet ins
Haus. Schnell zündet er eine Kerze an, stellt sie ins Fenster. Hoffentlich kann
er damit die Geister besänftigen.
Alle Häuser, in deren Fenster
eine Kerze leuchtet, werden von der wilden Jagd verschont. So sagt es der
Volksmund. Die meisten Menschen befolgen das Gebot; manche meinen es besonders
gut, sie lassen ihr Haus von einem ganzen Lichtermeer anstrahlen. Ach, diese
Menschen, sie müssen immer übertreiben. Das gefällt Wotan überhaupt nicht.
„Blast die Lichter aus“, befiehlt er mit zorniger Stimme. Aber diese lassen sich nicht auspusten. Und
so toben die Wilden durch die Glühbirnen, durch die Kabel, hinterlassen ein
wüstes Chaos, bis das Haus dunkel ist, stockfinster.
Auch Frau Holle späht nach
unten. Da! Da hängt doch tatsächlich Wäsche auf der Leine. Es ist ein einsames
Haus, irgendwo am Waldrand. Dabei wissen doch alle Frauen, dass man in der
heiligen Zeit keine Wäsche waschen darf und erst recht nicht draußen aufhängen.
Schon sind einige Helferinnen unterwegs, stürmen in die Betttücher, verfangen
sich in lange Unterhosen, zerreißen Pullover und Hosen. Sie werden nicht mehr
weg kommen, müssen ein ganzes Jahr lang auf der Erde bleiben, denn die wilde
Jagd ist längst weitergezogen. Gutes
bringen die Zurückgebliebenen den Bewohnern des Hauses nicht. Die Strafe für
die Überschreitung des Verbots besteht in Pech und Unglück, Tag für Tag, das
ganze Jahr hindurch.
Doch nicht nur Angst und
Schrecken verbreitet das Gespensterheer. Dafür sorgt die Göttin Holle, die als
Frau Holle im Märchen die bösen Menschen zwar bestraft, die guten aber reich
belohnt. So hält sie Ausschau nach Menschen, die fleißig sind, hilfsbereit,
bescheiden, liebevoll, einsam. Und wenn diese Menschen in einer Nacht zwischen
den Jahren ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit verspüren, dann wissen sie,
Frau Holle war bei ihnen, leise, geheimnisvoll, unsichtbar.
Die Göttin ist es, die Magie
in die Zeit zwischen den Jahren bringt.
Sophie Lange
Sophie Lange
Eine Geschichte „Zwischen den
Jahren“ gibt es hier
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