Sonntag, 18. Dezember 2016

Die Weihnachtsfeier

„Was ziehst du an?“ Ein Anruf von Margret.
„Natürlich was mit Seide, und Schmuck, endlich mal wieder“, antwortete Gerda.
„OK“
Sie waren zu viert verabredet, Johanna sollte die Plätze freihalten, sie war sowieso immer die Erste bei allen Veranstaltungen. So auch heute. Tapfer verteidigte sie die Plätze gegen den Ansturm, der kurz vor vier einsetzte. Cafeteria und Speisesaal waren zu einer Einheit zusammengefügt worden, es hatten sich fast zweihundert Bewohner des Hauses am Kirchberg zu ihrer jährlichen Weihnachtsfeier angemeldet.
„Na, endlich,“ rief sie, als Irmtraud endlich angerauscht kam. Natürlich auch sie in Samt und Seide. Sie nahm Platz und begutachtete als Erstes das Gebäck, das auf dem Tisch stand. Na, ja. Dann kamen auch Margret und Gerda, sie mussten mit dem Rücken zur Kapelle sitzen. Machte aber nix, sie wollten ja hören.  Nun wurde auch Kaffee eingeschenkt, die wievielte Tasse war das heute, fragten sich die Damen. Eigentlich mussten sie vorsichtig sein – mit über siebzig – weit über siebzig.


Der Lautsprecher röchelte, da bereitete sich was vor. Ja, der stellvertretende Direktor rüttelte am Mikrofon, tiptop in schwarz, wie es sich in diesem Haus gehörte. Ein paar warme Worte zur Adventzeit, zum Beschaulichen, zum Traditionellen zum Besinnlichen und so weiter. Die Glastüren schwangen auf, eine schwarz gewandete junge Dame schwebte herein, die Geige im Anschlag – witzelte Gerda. Aber wirklich schick die Garderobe. Was spielte sie? Was Passendes, keine Ahnung, was – murmelten die Damen; und – der Kaffee ist gut; und – dann kanns ja losgehen.

Es ging los. Mit Schwung. Waren das nicht Zigeunerklänge? Halt – durfte man das sagen: Zigeunerklänge? Margret guckte streng. Aber doch merkwürdig, war das nicht eigentlich eine Weihnachtsfeier? Na, abwarten, das kommt noch. Kam aber nicht. Ein Czardas jagte den anderen. Die Damen sahen sich an, sie waren platt – wie Johanna murmelte. Sie murmelte weiter: „Passen bestens hier ins Haus, die Musiker – alle haben weiße Haare.“ Johanna war stolz auf ihre eigenen weißen Haare.
Der Balkan war abgehakt, nach einer kleinen Atempause wurden Operettenklänge angekündigt.
„Sie dürfen gerne mitsingen,“ forderte der Stehgeier auf und zog noch eben seine Hose hoch. Sah unternehmungslustig aus, fand Johanna, die Sicht auf die Musikergruppe hatte. M i t s i n g e n ? „Sind wir hier bei einem Betriebsfest?“, fragte Irmtraud spitz.
Der Stehgeiger setzte noch einen drauf: “ Sie können auch gerne mittanzen, soweit es der Platz zulässt.“ Irmtraud verließ den Tisch Richtung Toilette, man hörte sie im Nebenraum hysterisch lachen. Das war der Raum, in dem die Rollatoren versammelt waren.
Zum Trost ein kleines vorweihnachtliches Dorf aus dem Erzgebirge:



Sonntag, 11. Dezember 2016

Der Neue

„Der sieht eigentlich ganz gut aus. Graue Haare, na, ja, das Übliche hier im Haus. Aber ein erstklassiger Haarschnitt. Auch die Klamotten, bestimmt teuer.“ Susanne legte ihren Kopf schief und hielt den Neuen fest im Auge. Er saß ein paar Tische entfernt, konnte die positive Beurteilung also nicht hören. Gerda hatte ihr schweigend zugestimmt und nickte immer noch mit dem Kopf. War sie so begeistert?
„Das finden auch andere hier im Haus. Habt ihr mitgekriegt, wie sie sich in der Cafeteria recken und strecken, um ihn an ihren Tisch zu bekommen?“ Auch Johanna hielt den Neuen fest im Auge, er war aber auch wirklich ein angenehmer Anblick.
„Ja klar, aber meistens geht er vorbei und setzt sich allein an einen Tisch. Soweit, dass sich Frau Meier einfach an seinen Tisch setzt, ist es ja noch nicht gekommen.“ Margret hatte keinen Blick auf den Tisch des Neuen, wusste aber anscheinend, dass Frau Meier besonders interessiert war.
„Der trau ich das auch gar nicht zu, eher schon Frau Müller, die hatte doch auch den Dicken von Haus B fest in ihre Hand bekommen. Schade nur, dass er …“ Gerdas Kopf nickte schon wieder - traurige Wahrheiten wurden selten ausgesprochen in der coolen Seniorenresidenz.
„Ja stimmt, sie bemutterte ihn ständig, ekelhaft.“ Susanne.
„Aber ihm wird’s wohl gefallen haben, sonst hätte er sich schon eher dünne gemacht – der Dicke.“ Elvira lachte schallend über ihren Witz, allerdings blieb sie damit allein. Sie war noch neu in diesem Kreis älterer Damen, die sich ab und zu zusammensetzten. Auch, um sich über Nachbarn und Nachbarinnen auszutauschen. Jetzt mischte sich Irmtraud ein, der Mittelpunkt dieser Runde.
„Was Frau Meier betrifft, so hat sie übrigens die Betreuung seiner Zimmerpflanzen übernommen. Das duldet er, weil er viel zu faul ist, sie selbst zu pflegen.“ Die anderen sahen sich schweigend an. Wie immer, Irmtraud wusste mehr. Sie genoss die Situation.
„Frau Müller ist noch nicht zum Zuge gekommen, obwohl sie schon zwei Mal mit einem Piccolo und zwei Gläsern vor seiner Wohnung gestanden hat. Auf ihr mehrfaches Klingeln hat er zwar geöffnet, die Einladung zum Sekt aber abgelehnt. Tür zu und Schluss.“
Peinlich, fanden alle. Tsss, tsss und Kopfschütteln.
„Wer übrigens auch sehr interessiert ist“, Irmtraud machte eine Kunstpause und blickte in die Runde, dann nahm sie Susanne aufs Korn und lächelte maliziös. „Irgendwer möchte sich mit ihm über die Schönheiten Gran Canarias austauschen.“ Stille. Alle wussten Bescheid.
Susanne holte tief Luft, und:“ Und das erzählt er dir wohl, wenn du ihm jeden Morgen deine Zeitung zu bringst?“


Wenn Blicke töten könnten.

Samstag, 19. November 2016

Kur mit Schatten

Versonnen blickt Johanna aus dem Fenster, hinaus in den Garten, der fast ein Park ist. Ihr Blick schweift über die gepflegten Wege, den Rasen, die Blumenrabatten hin zum kleinen Blauen See. Die Kur in diesem Haus hat sie verdient. Zwar wohnt es sich auch im Haus am Kirchberg sehr gut und komfortabel, aber ein wenig Abwechslung hin und wieder muss sein. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, es ist vier Uhr.
Ihr Entschluss ist gefasst, sie ist ganz ruhig. Ihre rechte Hand gleitet in die Tasche des schneeweißen Bademantels, ja sie sind da, die Tabletten. Noch ein paar tiefe Atemzüge, dann greift sie zum Glas, um es endlich leer zu trinken. Das grüne Zeug schmeckt ekelhaft -  soll aber gesund sein.
Die Liegestühle in der elegant ausgestatteten Halle mit den großen Fenstern sind sämtlich noch besetzt, ein weißer Bademantel neben dem anderen, darüber blonde, schwarze und graue Köpfe. Johannas Blick bleibt auf Kunigunde haften, so hat sie sie selbst genannt. Zu ihrer Nachbarin gewandt:
„Sehen Sie sich das an: Operationen, Ersatzteile, Kosmetik, Friseur und ein eiserner Wille halten das Ganze zusammen.“ Ihre Nachbarin kichert und ergänzt: „Und natürlich ein Bankkonto als Grundlage.“
Dieses Bankkonto ist nach Johannas Vermutung der Grund, warum Doktor Eisenbart – auch eine private Namensgebung – dieser Dame so viel Aufmerksamkeit schenkt. Bis zur Ankunft Kunigundes war sie selbst Objekt seiner Schmeicheleien gewesen. „Und unser guter Doktor betet den Mammon an.“ So bestätigte die Nachbarin ihre These. Beide lächeln einvernehmlich, Johanna etwas verkniffen. Sie greift noch einmal nach den Tabletten: Die muss weg.
Etwas mühsam erhebt sie sich dann aus ihrem Liegestuhl, versucht trotzdem eine elegante Pose – Doktor Eisenbart steht am Eingang, an ihm muss sie vorbei, wenn sie zu ihrer Suite will.
„Johanna, Sie verlassen vorzeitig den Ruheraum? Das gefällt mir gar nicht. Sie brauchen diese Erholungsphase.“ Der Doktor lächelt Johanna an, ganz so wie früher, denkt sie.
„Ach, lassen Sie mich, die harten Stühle hier, das passt mir nicht“, sagt Johanna.
„Unsere Prinzessin auf der Erbse.„
Vor der Tür des Ruheraums kommt sie an dem Regal vorbei, an dem sich die Damen bedienen, wenn sie herunterkommen zur Ruhephase. Die Fächer sind mit Namen versehen und enthalten die täglich wechselnden Gesundheitstränke. Viele murren darüber, aber Doktor Eisenbart geht mit gutem Beispiel voran, auch sein Glas steht im Regal. Jetzt ist alles leer, die Damen ruhen ja schon.


Gegen elf Uhr am nächsten Morgen ist Johanna ganz erschöpft von all den Behandlungen, die sie schon hat über sich ergehen lassen müssen. Oder hat sie sie genossen? Das fragt sie sich, während sie in aller Ruhe die Kapseln zerschneidet, die das Fingerhutpräparat enthalten. Sie will nicht länger zusehen, wie Eisenbart Kunigunde hofiert. Ob sie ihn zurückgewinnt, das ist ihr eigentlich gleichgültig – aber Kunigunde muss weg, jedenfalls so lange, wie ihr eigener Aufenthalt hier im Haus noch dauern wird. Aus einer Serviette bastelt sich Johanna ein Tütchen, es muss ja schnell gehen beim Einfüllen des Giftes in Kunigundes Becher. Sie hat es schon ein paar Mal geübt mit Zucker und ist jetzt sicher, dass es klappen wird.

Es ist acht Uhr am Abend, Johanna macht einen kleinen Spaziergang im Park. Dabei hat sie den Eingang zum Haus am Blauen See im Auge. Sie wartet auf den roten Wagen mit dem Martinshorn, ihr Pülverchen muss doch allmählich Wirkung zeigen. In Eile und im Halbdunkel hatte sie ihr Tütchen geleert. Später hatte sie gesehen, dass alle Gläser leer waren. Auch das von Eisenbart, vorbildlich von ihm, dass er auch von dem Sud trinkt. Sie wartet vergebens. Nein, nicht wirklich vergebens: Ein schwarzes Auto fährt vor. Zwei schwarzgekleidete Herren tragen etwas, was aus der Entfernung wie ein Sarg aussieht. Es ist ein Sarg. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfließt Johannas alten Körper, sie muss sich setzen. Das hatte sie nicht zu hoffen gewagt. Ein längerer Krankenhausaufenthalt hätte ihr genügt. Aber wieso gibt es keine Polizei im Haus? Eigentlich keine Frage. Doktor Eisenbart kann sich dergleichen nicht leisten. Der Totenschein wird auf Herzversagen lauten. Und stimmt das nicht auch?

Johanna unternimmt einen Morgenspaziergang im Park. Es wimmelt von weißen Bademänteln, dazwischen die rosa Kostümchen der Schwestern, die die ein wenig gebrechlicheren Damen begleiten. Eigentlich so etwas wie ein Altenheim, nur besseres Essen und bessere Zimmer, denkt Johanna.
Man begegnet sich, man nickt sich zu, man ist ja so positiv trotz aller Beschwerden. Aber irgendetwas ist anders als sonst, die Stimmung scheint gedrückt, vor allem bei den Schwestern. Ja, irgendetwas war schon heute Morgen anders, die Visite hatte der Jungspund, so Johannas Namensgebung, übernommen.
Johanna strebt zu einer Bank, von der aus man über den kleinen See blicken kann. Leider sitzt schon jemand dort. Johanna erstarrt. Bleibt stehen. Ringt nach Luft. Unmöglich: Kunigunde. Wer lag gestern Abend im Sarg?

 

Freitag, 4. November 2016

Der Tote in unserem Garten


Die Sonne schien und lockte Johanna auf den Balkon hinaus. Sie erfreute sich an der Bepflanzung ihres Blumenkastens, drei strahlend gelbe Stiefmütterchen eingebettet in dicke Tannenzweige. Sah hübsch aus und war preiswert gewesen. Sie blickte hinunter in den Garten, der das Haus umgab und überprüfte dabei, was ihre Nachbarn auf den Balkonen gepflanzt hatten: Längst nicht so schlicht und schön wie bei ihr.
Unten im Garten hatte der Gärtner schon wieder etwas herumliegen lassen, einen Sack Erde wahrscheinlich, sehr groß. Direkt unter der Weide. Zu sehen war er nicht. Man sah ihn nur zusammen mit seiner Motorkarre, das heißt, er saß drauf und verärgerte alle Nachbarn durch seinen Lärm. Jetzt war nichts zu hören. Sollte der Sack da über Nacht liegenbleiben?
Telefon im Wohnzimmer: Gerda. „Geh mal auf den Balkon und sieh dir das an, jetzt schlafen die Penner schon in unserem Garten.“
„Penner, in unserem Garten? Wie meinst du das?“
„Ja, geh mal raus und sieh es dir an, der Kerl liegt schon seit Stunden da.“
„Ach was, ich habe auch was gesehen, das ist ein Sack Erde, den der grobe Klotz hat liegen lassen.“
„Meinst du? Ich halte das für einen Mann in einem braunen Mantel.“
Johanna strich ihre weißen Haare aus dem Gesicht, ging wieder auf den Balkon und guckte. Diesmal angestrengt. Der Sack oder der Penner hatte sich nicht bewegt. Mussten sie etwas tun?
„Gerda, ich erkenne ehrlich gesagt nicht, was das da unten ist, halte es immer noch für einen Sack mit Erde. Aber müssen wir nicht was unternehmen, wenn es wirklich ein Mensch ist?“
„Ach was, lass den Kerl ausschlafen, dann wird er schon wieder verschwinden.“
„Aber es wird gleich dunkel und es wird gleich kalt werden. Wenn dann etwas passiert, sind wir schuld, unterlassene Hilfeleistung heißt das.“
„Wir müssen es ja niemand erzählen, dass wir was gesehen haben“, sagte Gerda und versetzte Johanna damit in Erstaunen. Gerda war doch immer sehr korrekt gewesen.  Nicht nur das, sie ließ auch anderen keine Unkorrektheiten durchgehen.  Und nun so etwas.
„Aber Gerda“, sagte sie nur, hatte eigentlich auch keine Lust, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie trennten sich, leichte Verstimmung auf beiden Seiten.


Johanna legte den Hörer auf, machte sich einen Becher Tee und wollte jetzt endlich ihr Buch hochnehmen und lesen. Aber. Aber ein Gedanke saß in ihrem Kopf: Und wenn es doch ein Mensch wäre, der da unter der Weide lag? Vielleicht. Vielleicht war das sogar eine Leiche. Hier stockte Johanna. Ließ ihren Thriller sinken, er fiel ihr vor die Füße. Warum las sie auch solche Sachen. Da passierten die unmöglichsten Dinge. Und kurbelten die Fantasie an. Sie ging noch einmal auf den Balkon: Der Sack lag noch da. Oder die Leiche. Ob sie hinuntergehen sollte um nachzusehen? Aber nein, es wurde schon dämmrig. Und sie war alt und ein bisschen wacklig auf den Beinen. Das war eine gute Entschuldigung. Und außerdem – wenn er sowieso schon tot war?

Der nächste Morgen war trüb, sehr trüb. Im Garten waren viele rotweiße Bänder gespannt, Menschen in Uniformen oder weißen Anzügen hatten zu tun. Jetzt nahm Johanna ihren Gehstock, der im Schirmständer steckte, und ging hinunter. Sie musste Gewissheit haben, was da los war. Menschen standen herum, wussten vieles zu erzählen. Kinder hatten auf ihrem Schulweg einen Toten gefunden. Wer war das? Niemand wusste das. Der Mann war in den Graben gefallen – und gestorben. So erzählten es die Gaffer. Johanna schluckte. In ihrer Magengegend rumorte es, sie schluckte wieder und wieder. Sie – hätte – helfen – können. Er musste noch gelebt haben, war aufgestanden und dann in den Graben gefallen. Und sie hatte nichts getan. Aus Gleichgültigkeit. Sie wagte es nicht, sich umzusehen. Es war auch nicht mehr viel zu sehen. Die Leiche war abtransportiert worden.

Später am Tag gingen Polizeibeamte von Wohnung zu Wohnung und fragten, ob man irgendetwas gesehen hätte. Zu Johanna kam ein junger Beamter, der sich als Kommissar Lutz vorstellte. Johanna hatte sich inzwischen von ihren Gewissensbissen erholt und antwortete auf seine Fragen, ohne über die gestrigen Beobachtungen zu sprechen. Der Kommissar sprach von einem Toten, der im Graben gefunden worden war. Wie und wann er gestorben war, darüber sprach er natürlich nicht und Johanna hatte auch keine Lust zu fragen. Er bat sie, mit ihm auf den Balkon zu gehen, was sie auch tat. Er wollte ihr wohl beweisen, dass sie etwas hätte sehen müssen.
Johanna wagte es kaum, die Stelle unter der Weide zu suchen, auf der gestern der Mann gelegen hatte. Dieser Stelle näherte sich jetzt der dicke Gärtner mit seiner lauten Karre, stellte den Motor ab, stieg von der Karre, bückte sich - hob den Sack auf und verschwand.

Samstag, 15. Oktober 2016

Das Mord-Karussell


"Mein Haus ist meine Burg“, heißt es nicht so? Zumindest sieht unseres aus einiger Entfernung so aus. Jedenfalls so groß wie. Dachte Ursula Beckstein. Und seine Burg verlässt man nur im Notfall. Etwa wenn urplötzlich kein Kaffee mehr da ist. Oder Kaffeesahne. Warum sagt einem eigentlich niemand, dass nachgekauft werden muss. Vielleicht ist die Idee, die gesamte Küche internetmäßig auszurüsten gar nicht so schlecht. Denk mal drüber nach, liebe Ursula. Ursula besaß einen Laptop und konnte ihn auch bedienen.
Aber jetzt erst einmal raus aus der Burg. Hinaus auf den Markt. Wenn da nur nicht die dunklen Gänge wären, die Unterführung, unter der das Böse lauert. Oder zumindest lauern könnte, dunkel genug ist es ja, zumindest bei grauem Wetter. Drüber donnert der Verkehr der Sedentaler Straße. Ist man heil und gesund durch, dann warten Treppen, die bezwungen werden wollen.
„Hallo Frau Baumberger, auch zum Einkaufen unterwegs?“
„Ja.“
War auch schon mal freundlicher.
Aber: „Haben Sie schon gehört?“, lässt sich Frau Baumberger dann doch zu einem Gespräch herbei.
„Gibt’s was Neues?“
„Herr Mansberg ist tot. Ermordet.“
„Waaas?“
„Ja, ermordet. Sagt jedenfalls Frau Wenig.“
„Kann man‘s denn glauben? War die Polizei da? Und wer war’s?“
„Sie stehen erst am Anfang mit ihren Ermittlungen.“ Diese Floskel kennt Ursula aus zahlreichen Fernseh-Krimis. Daher wird sie wohl auch Frau Baumberger haben, denkt Ursula.
„Sagt Frau Wenig?“
„Ja, die wohnt in der Nachbarwohnung und die Wände sind ziemlich dünn.“ Aha.
„Wann ist es denn passiert?“
„Vor drei Tagen.“ Das kann nicht sein, denkt Ursula, das hätte sie längst gehört. Es blieb so leicht nichts verborgen in der Seniorenresidenz. Erst recht nicht sowas. Da stimmte was nicht. Eine von beiden hatte eine zu lebhafte Fantasie, entweder die Wenig oder die Baumberger.
Nur jetzt keine Zweifel zeigen, dann würde sie nicht weiterreden.
„War es Raubmord?“
„Wohl kaum, was war bei dem denn zu holen?“
„Na, wenn man ihn reden hörte …“
„Ich weiß, Leitender Angestellter -  bei einer Bank. Bankdirektor.“
„Da kommt im Laufe des Lebens doch was zusammen.“
„Nicht, wenn man eine anspruchsvolle Frau hat.“
„Ja, kann sein, sie putzte sich gern heraus, immer etwas overdressed. Auch schon tot.“ Schweigeminute.
„Ich geh zu Edeka und Sie?“
„Ich muss erst noch zur Buchhandlung Weber, guten Einkauf.“

Ursula Beckstein musste natürlich auch zu Edeka, des Kaffees wegen. Und wen sieht sie da am Spirituosenstand: Herrn Mansberg. Wusste sie’s doch, die Todesnachricht war aus der Luft gegriffen. Aber vielleicht war was …
„Guten Tag, Herr Mansberg, geht’s gut, gibt’s was Neues?“
„Ja, weiß Gott! die Polizei war da.“ Ach.
„Was ist denn passiert?“
„Herr Obermeier soll ermordet worden sein.“
„Ermordet?“
„Ja. Tot. Erschlagen oder so.“
„Woher wissen Sie das denn?“
„Frau Wenig hat es mir gesagt, sie wohnt ja nebenan – und die Wände sind dünn.“ Aha.
„Wann ist denn das passiert?“
„Vorgestern. Ich selbst habe ja nichts mitbekommen, obwohl ich auf derselben Etage wohne. Das musste ich auch der Polizei sagen, die bei mir nachfragte, ob ich etwas gehört oder gesehen hätte. Was passiert war, haben sie mir natürlich nicht gesagt.“
„Wer mag denn wohl der Täter sein? Jemand aus dem Haus – oder aus der Verwandtschaft?“
„Es ist wohl noch nichts bekannt, die Polizei ermittelt in alle Richtungen.“
Auch den Spruch kannte Ursula aus den Fernsehkrimis.
Von wem stammte denn nun die Fehlinformation? Frau Wenig oder Frau Baumberger? Herr Mansberg hatte eben verschämt sein Fläschchen Wodka zu allem anderen in den Wagen gepackt und ging Richtung Kasse. Da war nichts mehr zu holen.
Da – Frau Baumberger, immer noch beim Einkauf.
„Hallo Frau Baumberger, wissen Sie, wen ich eben getroffen habe?“
„Nee.“
„Herrn Mansberg.“
„Waaas?“
„Ja, quicklebendig. Wusste aber auch was von Polizei und Mord: Herr Obermaier. Übrigens auch ein Nachbar von Frau Wenig.“
„Sollte ich mich denn so verhört haben? Mansberg – Obermeier – nein, das kann nicht sein.“
„Außerdem soll es nicht vor drei Tagen, sondern vorgestern gewesen sein. Wie steht es eigentlich um die Gesundheit von Frau Wenig?“, fragte Ursula, diskret.
„Sie hat ihre Sinne durchaus beisammen – falls Sie auf so etwas anspielen.“

Die beiden Damen hatten ihre Einkäufe erledigt und machten sich auf den Rückweg zu ihrer Burg. In der Eingangshalle erwartete sie eine weitere Überraschung: Herr Obermeier stand an der Rezeption und verhandelte über irgendetwas. Jetzt war es an Frau Baumberger, Nachforschungen anzustellen, schließlich war ihre Information – Mansberg Auch wenn Ursula Beckstein behauptete, ihn gesehen zu haben …
„Herr Obermeier, lange nicht gesehen, alles in Ordnung?“
„Ja, natürlich, Frau Baumberger und guten Tag Frau Beckstein. Gut eingekauft, die Damen?“ In keiner Weise angeschlagen, der Herr Obermeier. Und nun?
„Es gibt ein Gerücht, dass Ihnen etwas passiert sein soll,“ ergriff Ursula die Initiative.
„Angetan, du lieber Himmel, was heißt das denn?“
„Mord.“
„Kommen Sie erst mal beiseite, so etwas will hier niemand hören.“
„Aber wissen Sie etwas?“
„Ja, zum Thema Mord weiß ich etwas – Herr Mansberg!“
„Tatsächlich? Aber das stimmt nicht, ich habe ihn eben gesehen.“
„Dann hat man ihn anscheinend doch nicht verhaftet.“
„Verhaftet??“
„Verhaftet??“
Die beiden Damen wie aus einem Mund.
„Die Polizei war bei mir, fragte, ob ich etwas gehört hätte, erwähnte die Wohnung Mansberger. Daraus habe ich geschlossen …“
„Aber wer ist denn nun ermordet worden? Ist überhaupt jemand ermordet worden?“
„Keine Ahnung, vielleicht sollten Sie Frau Wenig fragen?“





Freitag, 14. Oktober 2016

Mit Weinbegleitung


Die Tische im ansprechend dekorierten Speisesaal waren gut besetzt, es gab etwas Besonderes zu genießen – einen Event. Ein Spätsommermenü mit Weinbegleitung. Teuer zwar, aber die Karte sah verheißungsvoll aus. Also hatten die Begüterten und Unternehmungslustigen in der Seniorenresidenz gebucht und ohne Murren vorab bezahlt.
Der Gruß aus der Küche, etwas Undefinierbares aus dem Meer, aber lecker, wurde von einem Sekt begleitet. Man prostete sich zu am Tisch von Herrn Meier. Schon wurde der Wein zum ersten Gang eingeschenkt: ein Weißwein-Cuvée, aber von einem renommierten Weingut, Baden, 2012.
Ein Kenner am Nebentisch, Herr Müller, ließ verlauten: 2012, na ja. Aber zu Bachkrebsen auf Couscous verzeihlich. Herr Meier hatte die Kritik mitbekommen, teilte sie nicht – die Weine der letzten Jahre waren alle in Ordnung, zumal die aus Baden, teilte er dem gemischten Publikum an seinem Tisch mit.


Eine winzige Pause und schon kamen die Servierinnen mit dem nächsten Wein. Ah, Mosel, Riesling „Alte Reben“, Weingut Soundso. Herr Meier verlas den Text aus der Karte, die sowieso alle zur Hand hatten, deutlich, akzentuiert, mit Betonung auf Alte Reben. Fügte dann hinzu: Die Rebstöcke müssen mindestens 25 Jahre alt sein, damit der Wein diesen Zusatz erhalten kann. Ob das alle wussten, blieb unklar, man blickte bereits den Serviererinnen entgegen, die den Seesaibling auftrugen. Das Grüne neben dem Filet war Kressepüree, wie man nachlesen konnte. Es schien allen zu schmecken, Herr Meier drehte sein Glas in der Hand – leer. Aber schon kam eine der jungen Damen auf ihn zu: Darf ich nachschenken? Huldvolles Nicken. Er hatte seine Karte konsultiert und sah zum nächsten Gang kalifornischen Wein auf sich zukommen.
„Das geht aber gar nicht“, trompetete er über den Tisch, „Kalifornischer, noch dazu 2013.“
Es regte sich Widerspruch, auch Herr Müller setzte zu einer Verteidigung des Weines an; seine Frau zupfte an seinem Ärmel, um ihn am Sprechen zu hindern, vergeblich. „Sind Sie inzwischen zum Weinkenner mutiert, lieber Herr Meier?“ Das war recht provozierend. Die Wirkung auf die Tischrunden war unterschiedlich. Einige der Damen kicherten, einige der Herren sahen einen Streit heraufziehen. Jeder bedachte bei sich, auf welche Seite er sich stellen sollte. Beide, Meier und Müller, gehörten zu den Alphamännchen im Haus, die jeweils eine Horde Mitläufer und Abnicker hinter sich hatten. Wobei Männchen nicht der richtige Ausdruck ist, jedenfalls bei Herrn Meier, er reichte an das Format von Bud Spencer, seligen Angedenkens, heran. Allerdings nicht, was den Humor betrifft. Obwohl man bei dem ja auch nicht wusste, ob er im realen Leben tatsächlich so witzig war wie in seinen Filmen.

Nach einiger Überlegung erwiderte Meier: “Mutiert, was soll denn das heißen? Meine Frau und ich haben etliche Weingüter kennengelernt auf unseren Reisen. Und nicht nur in Deutschland. Außerdem wird hier jeder seine Meinung sagen dürfen, nicht wahr, Herr Müller?“
„Weingüter besuchen, das will noch gar nichts heißen“, erwiderte Müller. Schwieg dann aber.
Der Kalifornische wurde eingeschenkt und gleich danach standen die Teller mit Selleriecreme und Porree auf dem Tisch. Das kannte man sonst nur als Suppengrün, na, das hatte auch nichts Besseres als den Kalifornischen verdient. Dekoriert und arrangiert war das grüne Gemüse allerdings ganz ansprechend, übergossen mit Nussbutter. Von den anderen äußerte sich niemand zum Wein. Konnten sie nicht oder wollten sie nicht? Leises Geplauder begleitete diesen vegetarischen Gang, der Zeitgeist führte zu solchen absonderlichen Genüssen oder ist so etwas dem „Event“ geschuldet? Wegen der erforderlichen Abwechslung in einem Menü? Man war sich nicht einig. Über den Wein wurde nicht gesprochen, auch wurde beim Anbieten eines weiteren Schlückchens abgewinkt, man wollte Herrn Meier nicht beschämen.


Der wandte sich jetzt seinen Tischnachbarn zu, seine Stimme hatte an Kraft gewonnen, inzwischen drei Mal Wein und einmal Sekt, das stärkte das Selbstbewusstsein weiter.
„Pinot Noir von der Ahr – zum Fleischgang, wie passend. Trocken selbstverständlich.“
„Finden Sie, dass sich das besser anhört als Grauburgunder, Herr Meier?“ Auch Herr Müller war beflügelt von den bisher genossenen Weinen.
„Es steht nun mal so in der Karte“, antwortete der.
„Und darum frage ich mich, warum Sie es mit Stentorstimme verkünden müssen. Wir können alle lesen, oder?“ Er wandte sich an seinen Tisch und lächelte insbesondere den Damen zu.
Und schon wurde der Ahrburgunder ausgeschenkt, gefolgt vom  Hirschrücken. Das war interessanter als der Streit über die Weinkenntnisse. Hirschrücken, fast noch blutig, toll, mit bunten Rübchen und Lorbeerjus. Hatten sie etwa einen neuen Koch im Haus? Mehr oder weniger angeheitert prostete man sich zu, auch über unsichtbare Grenzen hinweg.
„Hirsch muss man aus der Eifel beziehen, woanders her, das geht gar nicht.“ Herr Meier gab weitere Insiderkenntnisse von sich.
„Ach, woher denn diese Weisheit, Herr Meier?", fragte Herr Müller
Der spielte nun eine weitere Karte aus. „Von einem Drei-Sterne-Koch. Hirsch nur aus der Eifel, Lamm nur aus Frankreich.“
Dabei hatte er sein Glas Ahrwein in Richtung auf Müller erhoben und dann mit Aplomb auf den Tisch gestellt. Rotwein geht gar nicht raus – dachten alle Damen. Das Malheur hatte Herrn Meier zurückgeworfen, er schwieg. Müller schwieg auch, aber triumphierend. Einen Augenblick schwiegen alle. Dann bemühte man sich, den Hirschbraten zu genießen, ebenso den Wein, manchen Damen war er zu trocken. Nur geflüstert.

Eine kleine Pause trat ein. Was sagte die Karte? Nachtisch. Ungewöhnlich: Salzkaramelleis, Malt Whiskey mit etwas Exotischem. Das stellte sich später als ganz edler Pudding heraus. Auf der Seite, auf der die Weine standen, war mit dem Ahrwein Schluss. Wie also weiter?
„Zur Nachspeise gehört Champagner.“ Herr Meier hatte sich gefangen, wollte sein Malheur vergessen machen. Die Damen merkten auf. Schön. Da kamen auch schon die Tabletts mit den Glasflöten. Ah. Man trank und es war wie mit des Kaisers neuen Kleidern, niemand wagte zu sagen, dass es schnöder Sekt war.