Freitag, 30. November 2018

Advent


von Rainer Maria Rilke

Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird.

Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt den Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.

Freitag, 23. November 2018

Treffpunkt


von Sophie Lange

In jedem Dorf gab und gibt es Treffpunkte, wo Neuigkeiten ausgetauscht werden. Für die Männer sind das die Kneipen, wo sie an der Theke sich unterhalten und diskutieren können.
Für Frauen war das früher, also noch früher als früh, der Dorfbrunnen, aber Frauen diskutierten – laut Männermeinung – nicht. Sie geben sich dem Klatsch und Tratsch hin: Wer mit wem und wer mit wem nicht mehr, wer krank oder gesund, wer geerbt hat oder wer enterbt worden ist, wer reich ist oder bettelarm, wo der Haussegen schief hängt und warum. Da konnte man wirklich staunen, das hätte man den Dörflern gar nicht zugetraut. Wenn frühmorgens Lenchen aus dem Unterdorf noch den Schnupfen hatte, so hatte sie abends schon eine Lungenentzündung. Gerüchte wachsen mit zunehmendem Tageslicht.

Später war es der Tante Emma-Laden, wo Frauen Gelegenheit hatten, ihr Mitgefühl für andere durchzuhecheln. Da wusste man auch, was beim Nachbarn mittags auf dem Tisch stand: Heringe oder schon wieder Eintopf. Die Kinder wurden ausgefragt, was Mama kochte. Die kleine Franziska erklärt mal stolz: Bei uns gibt es jeden Tag Grompere mit Kartoffel. Also Kartoffel mit Kartoffel. Das war dann schon ein Dorfgespräch. Es passierte ja sonst nichts? Oder doch: Da wurde der Pfarrer von einem Hund in die Wade gebissen und Sabine hatte sich schon wieder ein Paar neue Schuhe gekauft. Und seit kurzem hatten einige Ziegen hier ihr Heim gefunden.

Und wo trifft man sich heute? Christa hat es mir erklärt: auf dem Friedhof. Sie berichtet: Wenn ich zum Friedhof gehe, treffe ich immer andere aus dem Dorf und dann weiß ich bald alle Neuigkeiten. Heute geht es um Krankenhausaufenthalte, Operationen, Unfälle, Scheidungen und so weiter. Und wenn keine Besucher da sind, versucht Christa ein Schwätzchen mit den Toten. Die haben so manches Geheimnis mit ins Grab genommen. Aber leider schweigen sie wie ein Grab.

Freitag, 16. November 2018

Vom Land in die Stadt


von Anne Pöttgen

Wenn Seniorinnen vom Land – Hochdahl – in die Stadt – Köln – reisen, dann ahnen sie, dass das nicht so einfach sein wird. Die Vorfreude war da: Buch-Event,  verkaufen, signieren, quatschen, aber die Vorangst auch (gibt es laut Duden nicht).
Die A 46, dann die A 57 – hunderte Male befahren, dachte die Seniorin. Womit sie nicht gerechnet hatte: Sonnenschein von links, sehr niedrig stehend und keine Sonnenblende am Kleinwagen.
Eine angenehme Überraschung war der glatte Übergang der A 57 in die Straße, an der das angesteuerte Hotel liegt, die Innere Kanalstraße. Gott sei Dank hatte sich die Seniorin auf Google Maps angesehen, wie das Hotel aussieht. Groß, mit schmalen Fenstern. Sie wähnte sich gewappnet. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönte es aus dem Navi und das stimmte auch: ein riesiges Haus mit schmalen Fenstern. Aber – wo ist eine Einfahrt zur angekündigten ebenfalls riesigen Tiefgarage? Großes Fragezeichen. Also die nächste Möglichkeit genutzt, rechts abzubiegen, da würde schon ein Hinweis kommen.
Kein Hinweis, Spürsinn gefragt. Erstmal hinter dem Hotel parken, keine Schwierigkeit für den Kleinstwagen. Am Hintereingang beim Personal gefragt, freundlich Auskunft bekommen. Einmal rund ums Hotel, wie die Seniorin inzwischen selbst vermutet hatte. Vor der Rückkehr auf die Innere Kanalstraße eine Rechtsabbiegespur, aber auch die Einfahrt zur Tiefgarage – leider übersehen. Also eine weitere Runde und  auf den Platz vor dem Hotel abgebogen, Schranke. Knopf geht nicht. Keine Parkkarte. Hinweis: Rufdienst zur Rezeption leider gestört, bitte selbst melden. Zurücksetzen – es könnten ja andere Besucher kommen, aussteigen, zur Rezeption. Ein freundlicher junger Mann kommt mit zur Schranke, löst das Ticket und die Seniorin fährt unter den Blicken zahlreicher Menschen zur Tiefgarage.  Das Parken klappt. Der Aufzug gleich gegenüber, die Parkplatznummer leicht zu merken: 232.
Angemeldet, Zimmerkarte. Ja, die Seniorin wollte übernachten, im Dunkeln nach Haus, das geht gar nicht – mehr.
Im Aufzug ein neues Erlebnis für die Seniorin vom Lande. Bevor der Aufzug sich in Bewegung setzen darf, muss die Zimmerkarte irgendwohin gehalten werden. Aber wo? Raus aus dem Aufzug, wieder ein netter junger Mann, sehr hilfreich im Erklären. Eigener Versuch: Karte an vorgesehene Stelle, gleichzeitig Etagennummer. Nix. Zweiter Versuch: Etwas kräftiger auf die Etagennummer gedrückt – klappt. Ich bin drin.
Aber wie kommt man am nächsten Morgen wieder raus? Das Parkticket ist bezahlt, wo kann man es einstecken? Das riesige Rolltor ist nämlich geschlossen. Wieder zurückgesetzt, rein in den Aufzug, bei der Anmeldung nachfragen.
„Sie müssen bis dicht vor das Rolltor fahren, dann klappt‘s.“ Verständnisvolles Lächeln einer älteren Dame, die sich gerade anmeldet – vielleicht auch vom Lande?

Freitag, 9. November 2018

Was kann ich für Sie tun?


von Sophie Lange

Gleich im ersten Laden bei meiner Shopping-Tour werde ich mit weit ausholender Gestik und strahlendem Blickkontakt begrüßt: „Was kann ich bitte für Sie tun, junge Frau?“ Das wohl spöttisch gemeinte „junge Frau“ kontere ich mit einem „alter Mann“ und versichere, dass ich mich nur mal umschauen will. Wie auf Druckknopf erloschen die Dollarzeichen in den Augen des Verkäufers. Kein Interesse mehr an der „jungen Frau“ im reifen Alter!

Mir fällt der Roman des Mongolen „Galsan Tschinag „Kennst du das Land“ ein, der beim Studium in Leipzig das deutsche Kulturgut kennenlernen will. Zunächst ist er von der Freundlichkeit der Leipziger fasziniert. Doch dann schnappt er ein Wort auf, das ihn nachdenklich macht: scheiß-freundlich. Er setzt das zunächst mit „unfreundlich“ gleich, doch bald wird ihm erklärt, dass es sich um zwei unterschiedliche Bedeutungen handelt. Was nun schlimmer ist, scheiß-freundlich oder unfreundlich, das muss er selbst rausfinden. 

Ganz anders kommt die Frage „Was kann ich für Sie tun?“ im Krankenhaus rüber. Hier ist wirklich das Angebot gemeint, Hilfe zu leisten und Erleichterung zu verschaffen. Und Kranke sind sehr dankbar für jede kleinste Annehmlichkeit, wenn kundige Ärzte oder hilfsbereite Krankenschwestern bereitstehen. Hier ist seitens des Kranken stets ein Bitte und Danke angebracht, denn diese „Zauberwörter“, wie man sie Kindern immer interessant macht, sollen auch Erwachsene nicht vergessen.


Donnerstag, 1. November 2018

Auf dem Friedhof


von Sophie Lange

Im November, dem Toten- und Trauermonat, führt so mancher Gang zum Friedhof, um die frisch geschmückten Gräber von lieben Verstorbenen zu besuchen. Und das oft bei eisiger Kälte. Da wird so manche Erinnerung geweckt.

In den Dörfern  war es üblich, dass praktisch das ganze Dorf einem verstorbenen Dorfbewohner „die letzte Ehre gab“. Da waren auch wir Kinder nicht ausgeschlossen. Ich hatte immer Sorge, dass ich auf dem Friedhof zu weinen anfing. Das wollte ich nicht. So biss ich mir auf die Lippen und dachte mir lustige Geschichten aus. Aber irgendwann passierte es dann doch.

Wenn der Verstorbene Mitglied in einem Verein war – und das war praktisch jeder -, spielte die Musikkapelle am offenen Grab die Melodie vom guten Kameraden  Das Soldatenlied gehörte zum Repertoire meines Vaters, und so konnte ich den Text leise mitsingen:

Ich hatt' einen Kameraden,
einen besseren find'st du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
wir gingen Seit an Seite
im gleichen Schritt und Tritt.

Bei der zweiten Strophe hatte ich ein genaues Bild vor Augen. Vielleicht hatte ich es mal in einem Kriegsfilm oder in einem Buch gesehen. Und spätestens jetzt flossen die Tränen.

Eine Kugel kam geflogen,
gilt sie mir oder gilt sie dir.
Ihn hat sie umgerissen,
er liegt zu meinen Füßen,
als wär's ein Stück von mir.

Mit tränenerstickter Stimme sang ich die dritte Strophe und sah vor mir den sterbenden Soldaten mit erhobener Hand. Das war so traurig:


Will mir die Hand noch reichen,
derweil ich eben lad'.
Kann dir die Hand nicht geben,
sei du im ewigen Leben
mein bester Kamerad.

Schluchzend verließ ich mit meinen Eltern den Friedhof. Voll Trauer über den Verstorbenen, den unbekannten Soldaten und das ganze Elend der Welt. Jetzt sah ich, dass auch andere Dorfbewohner weinten. Das tröstete irgendwie.

Der Friedhof, ein Platz, an dem man weinen kann.