von Sophie Lange
„Hast du etwas verloren?“ Marlies
zuckt zusammen. Von hinten hat Susanne sie angesprochen.
„Hast du mich erschreckt.“ Marlies
schießt giftige Blicke auf die Ruhestörerin. „Musst du dich immer so
anschleichen?“
„Du schaust so gebannt auf die
Erde“, entschuldigt sich Susanne und fuchtelt beschwichtigend mit ihrem
Gehstock. „Suchst du den Tag von gestern?“
„Mensch, ich suche Kastanien“, erklärt
Marlies, noch immer etwas verärgert.
„Da liegen ja hier unter der alten
ausladenden Rosskastanie massenhaft 'rum“, schaut Susanne nun auch auf den
Boden, und stochert mit ihrer Gehhilfe in einen angewehten Haufen Laub. Es
raschelt, es staubt, es riecht nach Erde, nach modriger Herbsterde. Und jede
Menge Kastanien werden sichtbar: Manche niedlich-klein wie eine Stachelbeere,
andere in der Größe einer Sauerkirsche oder einer Cocktailtomate. Besonders
schön sieht eine Frucht aus, die noch halb in ihrer Schale ruht. Ein harter
Kern in einer harten stacheligen Hülle!
„Die wird meinen Herbsttisch
schmücken,“ greift Marlies mit einer Behändigkeit zu, die man ihr in ihrem
Alter gar nicht zugetraut hätte. „Jetzt
brauche ich aber noch ganz schöne, glänzende,“ fährt sie fort.
„Und was willst du damit?“ Susanne
ist wie immer neugierig, oder - wie sie es nennt - wissbegierig.
„Die stecke ich in meine Hosen- und
Manteltasche, wenn du es genau wissen willst“ macht Marlies kein Geheimnis aus
ihrer Suchaktion.
„Und was soll der Schwachsinn?“
Susanne schüttelt den Kopf.
„Hast du noch nie gehört, dass
Kastanien vor Rheuma und Gicht schützen?“ Marlies lässt sich nicht aus der Ruhe
bringen.
Susanne lacht. „So 'nen Humbug
glaubst du doch nicht wirklich!“
Nun sieht Marlies sich genötigt,
Aufklärungsarbeit zu leisten. So doziert sie: „Die Rosskastanie ist schon seit
dem Mittelalter wegen ihrer heilenden Wirkung bekannt. Die Rinde gilt
volkstümlich als Fiebermittel. Und bei Krampfadern werden Kastanien seit jeher
eingesetzt.“
„Ja gut, das mag ja stimmen“,
rudert Susanne den „Humbug“ etwas zurück, „aber dass Kastanien Heilkräfte
entwickeln, nur, wenn man sie in der Hosentasche mit sich rumschleppt - das
glaube ich nicht.“ Nach kurzer Gedankenpause muss sie dann jedoch zugeben:
„Aber der Glaube soll ja bekanntlich Berge versetzen.“ Und da sie schon einmal
dabei ist, zitiert sie gleich ein anderes Bibelwort: „Wer glaubt, wird selig.“
Dabei fällt ihr ein, dass ihre Oma immer sagte: „Wer glaubt wird selig, wer
backt wird mehlig.“ Die Erinnerung lässt sie herzhaft lachen.
Marlies findet das gar nicht lustig
und erklärt ernst: „In der Hosentasche entwickelt die Kastanie wohltuende
Wärme, die Gelenkschmerzen lindert. Außerdem kann man die runde Frucht mit der
glatten Oberfläche als „Handschmeichler“ nutzen und in der geschlossenen Hand
hin und her drehen. Das beruhigt.“
Marlies bückt sich – mühsam – hebt
eine wohl geformte tiefbraune Kastanie auf, reibt sie sorgfältig am Jackenärmel
bis sie glänzt wie eine polierte Zauberkugel, betrachtet sie gedankenverloren
einige Sekunden lang und steckt sie dann in die Hosentasche.
„Wenn sie nicht helfen“, sagt sie
nachdenklich, „so bergen Kastanien in der Hosentasche zumindest keine Risiken
und Nebenwirkungen.“
Das überzeugt Susanne und nun sucht
sie ebenfalls einige Herbstfrüchte und lässt diese in die Jackentasche
verschwinden. Heimlich, verschämt.
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