Freitag, 20. Oktober 2017

Kastanien in der Hosentasche

Es ist Herbst und hier ist eine weitere Herbstgeschichte
von Sophie Lange

„Hast du etwas verloren?“ Marlies zuckt zusammen. Von hinten hat Susanne sie angesprochen.
„Hast du mich erschreckt.“ Marlies schießt giftige Blicke auf die Ruhestörerin. „Musst du dich immer so anschleichen?“
„Du schaust so gebannt auf die Erde“, entschuldigt sich Susanne und fuchtelt beschwichtigend mit ihrem Gehstock. „Suchst du den Tag von gestern?“
„Mensch, ich suche Kastanien“, erklärt Marlies, noch immer etwas verärgert.
„Da liegen ja hier unter der alten ausladenden Rosskastanie massenhaft 'rum“, schaut Susanne nun auch auf den Boden, und stochert mit ihrer Gehhilfe in einen angewehten Haufen Laub. Es raschelt, es staubt, es riecht nach Erde, nach modriger Herbsterde. Und jede Menge Kastanien werden sichtbar: Manche niedlich-klein wie eine Stachelbeere, andere in der Größe einer Sauerkirsche oder einer Cocktailtomate. Besonders schön sieht eine Frucht aus, die noch halb in ihrer Schale ruht. Ein harter Kern in einer harten stacheligen Hülle!
„Die wird meinen Herbsttisch schmücken,“ greift Marlies mit einer Behändigkeit zu, die man ihr in ihrem Alter gar nicht zugetraut hätte. „Jetzt  brauche ich aber noch ganz schöne, glänzende,“ fährt sie fort.
„Und was willst du damit?“ Susanne ist wie immer neugierig, oder - wie sie es nennt - wissbegierig.
„Die stecke ich in meine Hosen- und Manteltasche, wenn du es genau wissen willst“ macht Marlies kein Geheimnis aus ihrer Suchaktion.  
„Und was soll der Schwachsinn?“ Susanne schüttelt den Kopf.
„Hast du noch nie gehört, dass Kastanien vor Rheuma und Gicht schützen?“ Marlies lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Susanne lacht. „So 'nen Humbug glaubst du doch nicht wirklich!“
Nun sieht Marlies sich genötigt, Aufklärungsarbeit zu leisten. So doziert sie: „Die Rosskastanie ist schon seit dem Mittelalter wegen ihrer heilenden Wirkung bekannt. Die Rinde gilt volkstümlich als Fiebermittel. Und bei Krampfadern werden Kastanien seit jeher eingesetzt.“
„Ja gut, das mag ja stimmen“, rudert Susanne den „Humbug“ etwas zurück, „aber dass Kastanien Heilkräfte entwickeln, nur, wenn man sie in der Hosentasche mit sich rumschleppt - das glaube ich nicht.“ Nach kurzer Gedankenpause muss sie dann jedoch zugeben: „Aber der Glaube soll ja bekanntlich Berge versetzen.“ Und da sie schon einmal dabei ist, zitiert sie gleich ein anderes Bibelwort: „Wer glaubt, wird selig.“ Dabei fällt ihr ein, dass ihre Oma immer sagte: „Wer glaubt wird selig, wer backt wird mehlig.“ Die Erinnerung lässt sie herzhaft lachen.
Marlies findet das gar nicht lustig und erklärt ernst: „In der Hosentasche entwickelt die Kastanie wohltuende Wärme, die Gelenkschmerzen lindert. Außerdem kann man die runde Frucht mit der glatten Oberfläche als „Handschmeichler“ nutzen und in der geschlossenen Hand hin und her drehen. Das beruhigt.“
Marlies bückt sich – mühsam – hebt eine wohl geformte tiefbraune Kastanie auf, reibt sie sorgfältig am Jackenärmel bis sie glänzt wie eine polierte Zauberkugel, betrachtet sie gedankenverloren einige Sekunden lang und steckt sie dann in die Hosentasche.
„Wenn sie nicht helfen“, sagt sie nachdenklich, „so bergen Kastanien in der Hosentasche zumindest keine Risiken und Nebenwirkungen.“
Das überzeugt Susanne und nun sucht sie ebenfalls einige Herbstfrüchte und lässt diese in die Jackentasche verschwinden. Heimlich, verschämt.

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