Freitag, 13. September 2019

Gerda F. (58)

von Brigitte Thion, als Gast


Vor drei Jahren habe ich mich von meinem Mann getrennt. Eigentlich wusste ich lange vorher, dass meine Ehe am Ende war. Mein Ehemann war in den letzten Jahren nur noch feindselig und respektlos mir gegenüber gewesen. Ich dagegen hatte mit allen Mitteln versucht, die Beziehung zu retten, schenkte ihm trotz seiner Gemeinheiten sehr viel Aufmerksamkeit und überredete ihn zur Paartherapie. Es änderte sich nichts und eines Tages fand ich heraus, dass er bereits seit etlichen Jahren eine Geliebte hatte. Ich warf ihn aus meinem Leben und unserem gemeinsamen Haus. Seitdem hatte ich keinen Mut und keine Lust mehr gehabt, einen neuen Mann kennen zu lernen, und lebte allein. Ab und zu kam meine erwachsene Tochter Valentina am Wochenende zu Besuch. Wir waren wie beste Freundinnen. Leider wohnte sie 300 Kilometer entfernt. Hin und wieder passte ich auf ihren aus Rumänien stammenden, ehemaligen Straßenhund Candy auf. Manchmal hatte ich Candy länger bei mir. Das genoss ich dann sehr.
Insgesamt arrangierte ich mich ganz gut mit dem Alleinleben, jedoch kam immer wieder ein Gefühl der Einsamkeit auf. Mir fehlten die Aufmerksamkeit und die Zärtlichkeit eines Mannes. Auf den Tipp meiner Tochter hin, meldete ich mich deshalb bei einer Online-Partnerbörse an. Ich bekam schnell viele Zuschriften und hatte schon bald meine ersten Dates.
Die meisten Männer traf ich jedoch nur einmal, da bereits bei der ersten Verabredung klar wurde, dass es zwischen uns nicht funkte. Außerdem gab es einige Kandidaten, die nur das eine wollten. So hatte ich mir die Partnersuche nicht vorgestellt. Fast hatte ich aufgegeben, weil ich niemand Passendes gefunden hatte. Doch dann meldete sich Rainer. Schon seine erste Kontaktaufnahme unterschied sich in positiver Weise von denen der anderen Männer. Die meisten schrieben nur folgende Sätze: „Hallo Gerda, dein Profilfoto gefällt mir. Schreib mir doch zurück. Wir sollten uns treffen.“
Rainer dagegen gab sich mehr Mühe und war charmanter:
„Liebe Gerda, dein Lächeln auf deinem Profilfoto hat mich sofort verzaubert. Eine so wunderschöne Frau wie dich habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich würde mir wünschen, dein Lächeln jeden Tag live zu erleben. Ich bin dein ewiger Bewunderer.“
Ich antwortete ihm sofort. So nette Worte hatte ich kein einziges Mal in meiner Ehe zu hören bekommen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Diesen Mann wollte ich unbedingt kennenlernen.
Wir verabredeten uns für das nächste Wochenende in einem Café in meiner Heimatstadt. Als ich ankam, wartete er bereits auf mich. Ich war etwas überrascht, da sein Aussehen nicht ganz seinem Profilfoto entsprach, wahrscheinlich war dieses bereits einige Jahre alt. Er war dicker und seine Haare schütterer und grauer als auf dem Foto.
Da ich mich schon einmal auf den Weg gemacht hatte, entschied ich mich, ihn kennenlernen zu wollen. Er dagegen schien von meinem Anblick ganz beeindruckt zu sein. Er machte mir sofort schöne Komplimente: „Du siehst noch viel besser und viel jünger aus als auf dem Profilfoto. Du bist schöner als in meinem Traum. Ich bin begeistert. Vielleicht habe ich ein bisschen Glück und ich gefalle dir auch?“ Ich war geschmeichelt, deshalb ließ ich seine Frage unbeantwortet.
Wir verbrachten einen schönen gemeinsamen Nachmittag. Für ihn war es selbstverständlich, dass er alles bezahlte. Im nächsten Blumenladen kaufte er mir einen Riesenstrauß der schönsten Rosen. Sie waren zweifarbig, weiß und orange, wie ich sie liebte. Im Anschluss gingen wir noch im Park spazieren und er ließ mich wissen, dass er mich unbedingt wiedersehen wollte.
Das taten wir auch, nicht nur einmal. Er brachte mir zu jedem Treffen einen schönen Rosenstrauß mit und lud mich in die feinsten Restaurants ein. Ich war sehr beeindruckt. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Auch charakterlich schien es sehr gut zu passen. Unsere Gespräche waren interessant und tiefgründig. Er brachte mich außerdem zum Lachen. Sein Humor war nicht nur einfach, sondern feinsinnig. Das war mir bei einem Mann immer schon sehr wichtig gewesen.
Er besuchte mich, oder ich besuchte ihn in den kommenden Wochen.
Er wohnte 60 Km entfernt in einer ländlichen Umgebung. Sein Haus war freistehend im Stil der sechziger Jahre. Außen wie innen. Massive Holzmöbel und braun und orange Töne an den Wänden und Textilien herrschten vor.
Bei meinem ersten Besuch schlug er mir eine Hausführung vor. Im Obergeschoss befand sich das Schlafzimmer mit schweren Eichenmöbeln, das Doppelbett und der Kleiderschrank waren hellblau lackiert.
Das Badezimmer war grün gefliest, ein kleines Arbeitszimmer befand sich unter der Dachschräge.
Im Wohnzimmer im Erdgeschoss stand ein massiver brauner Kamin und ein großes mit Cord bezogenes orangefarbenes Sofa. Die Küche war klein und rustikal. Ganz besonders stolz war Rainer auf sein Spielzimmer im Keller, in dem ein Billardtisch und ein großer blauer Metallschrank standen, es war ein Koloss eines Schrankes.
„Was bewahrst du denn hier auf?“ fragte ich ihn.
„Das ist mein Waffenschrank. Ich sammle Gewehre.“
„Gewehre? Echte Gewehre? Darf man das denn überhaupt?“
„Ich ja, ich habe eine Sondererlaubnis.“ Das kam mir eigenartig vor.
In diesem Haus mit den Waffen hätte ich nicht leben wollen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Rainer von sich aus: „Ich bin nicht ortsgebunden. Ich kann auch woanders wohnen.“
Ich war beruhigt. Denn auch die Gegend gefiel mir nicht. Wenn das Haus die einzige Macke von Rainer wäre, könnte ich mich damit abfinden, sofern er denn bereit war zu mir zu ziehen, sagte ich mir.
Mein Haus war fast das genaue Gegenteil von seinem, es war hell eingerichtet, mit weißem Holz und zeitgemäß. Es wirkte gemütlich und zugleich modern. Meine Tochter hatte mir bei der Einrichtung meines schönen weißen Hauses geholfen. Es war ebenfalls ein freistehendes Haus. Die nächsten Nachbarn lebten etwa 50 m entfernt. So konnte ich meinem Hobby der Opernmusik nachgehen und ohne jemanden zu stören, die Opernarien laut mitsingen.
Nicht nur für mich, sondern auch für einen Partner hatte ich auf 120 Quadratmetern genug Platz. Da Rainer bereit war, zu mir zu ziehen, stand unserer Beziehung nichts im Wege.
Er ging rücksichtsvoll mit mir um und war in keiner Weise plump. Er schien es wirklich ernst mit mir zu meinen, denn es war nicht seine Absicht, mich schnell ins Bett zu bekommen. Nein, er ging behutsam und achtsam vor. Nach ein paar Wochen entschlossen wir uns doch, unsere erste gemeinsame Nacht miteinander zu verbringen. „Nicht bei mir, nicht bei dir, es soll etwas ganz Besonderes sein“, schlug Rainer vor. „Wir gehen in ein schönes Hotel.“
Er holte mich mit seinem flotten Cabrio zuhause ab. Mit einem roten Seidenschal verband er meine Augen. Ich sollte nicht sehen, wo es hingehen würde. Es sollte eine Überraschung werden. Dann fuhren wir los.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir am Zielort an. Noch durfte ich die Augenbinde nicht lösen. Mit seiner Hilfe stieg ich aus dem Cabrio und er nahm er mir den Seidenschal ab. Vor mir erblickte ich ein Schloss. Ich glaubte zu träumen. Es war das Hotel Schlosshof, das teuerste Hotel in unserer Umgebung. Nach einem romantischen Essen im Schlossrestaurant verbrachten wir eine wunderschöne Nacht miteinander und mir wurde klar, dass wir seelisch und auch körperlich perfekt zusammenpassten.
Ich war vollkommen glücklich. 
Jetzt behandelte er mich noch mehr wie eine Königin. Zu unserem einmonatigen Jubiläum schenkte er mir Collier, sündhaft teuer, aus hochwertigem Weißgold mit Brillanten und einem strahlenden Saphir, als Zeichen seiner Liebe. Ich war mir sicher, endlich das Glück gefunden zu haben.

Bei meinen Freundinnen und meiner Tochter Valentina schwärmte ich von Rainer in höchsten Tönen. Daher wollte meine Tochter ihn unbedingt persönlich kennenlernen. Sie wollte wissen, wer ihre Mutter so glücklich machte. Am nächsten Wochenende sollte es so weit sein.
Rainer hatte nichts dagegen, im Gegenteil war er sehr angetan von dieser Idee und er lud uns beide in ein schickes Restaurant ein. Ich war mir sicher, dass Valentina meine Begeisterung verstehen könnte und sie ihn auch akzeptieren würde.
Aber der Abend verlief völlig anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Bereits bei der Begrüßung fiel mir auf, dass Rainer ihr gegenüber sehr reserviert, unhöflich, fast feindselig war. An Valentina konnte es nicht liegen, da sie wirklich nett zu ihm war. Doch er bezeichnete sie als „Feindin“ oder er sagte: „Der Feind hört mit“, wenn sie zu uns ins Wohnzimmer kam. Doch noch konnten meine Tochter und ich das als Scherz ansehen.
Später, beim Essen im Restaurant fing er an, Valentinas Job als Lehrerin schlechtzumachen. Lehrer sind faul und überbezahlt, sagte er. Außerdem haben sie ständig Ferien und auch an Samstagen und Sonntagen frei. Das müsste geändert werden. Er als ehemaliger Unternehmer hätte rund um die Uhr arbeiten müssen.
Anfangs versuchten Valentina und auch ich, seine bissigen Kommentare zu überhören und ihn zu bremsen, jedoch schien ihn das noch mehr anzustacheln. Mittlerweile hatte Valentina es aufgegeben, sich zu verteidigen. Er hörte doch nicht zu, wenn wir etwas erzählten. Von seiner eigenen Tochter schwärmte er in höchsten Tönen, dabei hatte sie keinen Beruf, arbeitete nicht und war daher mit ihren zweiundvierzig Jahren finanziell von ihm abhängig. Aber da sie sein Lieblingskind war, war das für ihn vollkommen in Ordnung. Wir versuchten, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, doch das ging nicht. Stattdessen zeigte er auf seinem Handy Bilder von Prominenten, die er alle kannte. Doch damit konnte er weder bei meiner Tochter noch bei mir Eindruck schinden. Diese angeberische Seite kannte ich nicht von Rainer. Was sollte das? Meine Tochter interessierten die sogenannten Fußballstars oder Trainer absolut nicht. Für dieses Gespräch an diesem Abend waren diese Personen auch völlig unwichtig.
Meine Tochter versuchte zu erzählen, dass sie sich für Naturschutz und besonders Tierschutz einsetzte. Besonders schlimm fand sie das Vorgehen in einigen Ländern, Straßenhunde einzufangen und zu töten. Doch Rainer schien ganz anderer Meinung zu sein. Sie kosteten nur Geld, außerdem würden sie Krankheiten übertragen. Auf unsere Einwände, dass man die Zahl der Straßenhunde langfristig durch Kastration reduzieren könnte und man sie sicherlich nicht töten dürfte, reagierte er nicht. Für ihn war klar, dass die Menschen und deren Interessen wichtiger seien als das Leben von Tieren.
Es interessierte ihn auch nicht, dass Valentinas Hündin Candy ein rumänischer Straßenhund war, dabei hatte er sich zuvor so tierlieb gegeben und bei Besuchen von Candy hatte er sie liebevoll gestreichelt und für sie Leckerlis mitgebracht.
Er fragte meine Tochter, was sie denn machen würde, wenn sie ein Fest zuhause plane, da würde sie doch sicherlich auch vorher ihr Haus säubern. Damit begründete er die Massentötungen von Hunden vor Fußballweltmeisterschaften und Olympischen Spielen in einigen Ländern. Außerdem könne man einen Frauenmörder verstehen, der den Frauen den Hals umdrehe, er habe sicherlich gute Gründe dafür. Valentina und ich sahen uns betroffen an. Was wollte er damit sagen?
Dann wurde er Valentina gegenüber noch seltsamer und beleidigte sie nun persönlich. „Gib doch zu, dass du faul bist, sonst wärest du nicht Lehrerin geworden.“
Da Rainer sehr laut wurde, erregten seine Kommentare auch an den Nachbartischen Entsetzen. Ich fragte Rainer noch mal, ob er das denn ernst meine, was er von sich gab.
„Was denn sonst?“ entgegnete er in einem aggressiven Ton.
Ich war schockiert und konnte es nicht fassen. War das wirklich derselbe Mann, mit dem ich die letzten so wunderbaren Wochen verbracht hatte? Von dem ich geglaubt hatte, endlich den Mann meiner Träume gefunden zu haben? Eine tiefe Enttäuschung erfasste mich.
Ich stammelte: „Rainer, wenn du das wirklich denkst, was du sagst, dann ist es vorbei mit uns.“
Er schaute nur empört. Valentina und ich sahen uns entsetzt an und wir verließen fluchtartig das Lokal. 
Ich schrieb ihm sofort eine Nachricht. „Lieber Rainer, ich befürchte, am heutigen Abend hat sich herausgestellt, dass wir in unseren Ansichten nicht zusammenpassen. Darüber bin ich sehr traurig, aber es ist besser, wenn wir uns nicht mehr treffen.“Als wir zuhause angekommen waren, waren bereits zwanzig Nachrichten von Rainer auf meinem Anrufbeantworter und auf meinem Handy eingegangen. Alle hatten im Prinzip den gleichen Inhalt: Ich habe ihn nicht verdient und er verfluche mich. Er habe jetzt gesehen, dass ich zu meiner Tochter hielt, statt zu ihm, meinem geliebten Mann. Er beschimpfte mich in den Nachrichten auf das Übelste, die Bezeichnungen „Schlampe“ und „Hure“ waren noch die harmlosesten. Valentina wollte die Polizei rufen, da sie sich Sorgen um mich machte und morgen wieder abreisen musste. Ich beruhigte sie, Rainer wäre jetzt nur aufgebracht, doch er würde das sicherlich morgen wieder anders sehen, bestimmt würde er mir nichts tun. „Bellende Hunde beißen nicht, das sagt man doch so. Ich glaube, Rainer gehört zu der Sorte.“Ich zog den Stecker von meinem Telefon raus und schaltete das Handy aus, weil es weiterhin unaufhörlich klingelte.Trotzdem schliefen wir in dieser Nacht sehr unruhig. Nach dem Frühstück, bei dem wir den gestrigen Abend noch einmal diskutierten, wunderten wir uns noch immer und konnten es nicht verstehen. Es war wie ein böser Traum. Besorgt ließ mich Valentina in meinem Haus zurück. „Mama, ruf mich und die Polizei sofort an, wenn etwas ist.“ Sie befürchtete, dass Rainer mir auflauern könne. Ich solle die Straße genau beobachten, bevor ich nach draußen ginge. Ich versprach es ihr.

Jetzt war von Rainer weit und breit nichts zu sehen. Auch gingen keine Anrufe mehr auf meinem Telefon ein. Enttäuschung über das jähe Ende unserer Beziehung und Rainers Verhalten und Erleichterung darüber, dass er mich in Ruhe ließ und ich mich nicht vor ihm fürchten müsste, wechselten sich ab. Ich empfand aber auch Wut darüber, dass er sich so gegenüber meiner Tochter verhalten und solch fürchterliche Ansichten vertreten hatte. Auch in den nächsten Wochen hörte und sah ich nichts von Rainer. Die Zeit verging und ich dachte immer weniger an ihn.

Manchmal kam jedoch der Gedanke auf, dass alles sehr eigenartig gelaufen war. Würde sich Rainer wirklich so zufriedengeben? Würde er mich einfach so gehen lassen? Eigentlich konnte ich es nicht glauben.
Doch bald machte ich mir auch darüber keine Gedanken mehr. Rainer war einfach vom Erdboden verschwunden, zumindest für mich. Vielleicht hatte er seine nächste Traumfrau schon im Internet gefunden. Meine Vorsicht ließ ich daher von Tag zu Tag immer stärker außer Acht.

Ungefähr einen Monat später kam für zwei Tage ein guter Freund von früher zu Besuch. Er war auf der Durchreise und wollte zu seiner neuen Freundin, die im Norden wohnte. Fröhlich und mit freundschaftlichen Küssen verabschiedeten wir uns vor meinem Haus.
Am Abend saß ich wie immer um dieselbe Uhrzeit vor dem Fernseher und schaute einen Krimi. Ich hatte es mir richtig gemütlich gemacht, ein Glas Rotwein und eine Duftkerze standen auf dem Couchtisch. Plötzlich hörte ich ein Motorengeräusch. Wer kam um diese Uhrzeit hierher? Es klang, als hätte ein Auto direkt in meiner Einfahrt gehalten. Ich erwartete niemanden. War es Valentina, die spontan vorbeigekommen war und mich überraschen wollte? Nein, sie hatte keine Ferien, morgen musste sie arbeiten. Jetzt war es schon neun Uhr abends. Ich wurde nervös, mein Herz pochte mir bis zum Hals. Ich ging in den Hausflur. Ein grelles Licht blendete mich. Durch die Haustür strahlte ein heller Schweinwerfer. Der Motor wurde ausgeschaltet, doch das Licht blieb an, die Autotür schlug zu, jemand war wohl aus dem Wagen ausgestiegen.
 Ich hatte panische Angst. Ich lief die Treppe hoch in mein Schlafzimmer, wo ich mein Telefon liegengelassen hatte. Aus dem verdunkelten Zimmer schaute ich vorsichtig aus dem Fenster die Einfahrt herunter. Unten an der Ecke erblickte ich Rainers Cabrio. Er selbst war jedoch nicht zu sehen. Mir wurde ganz anders zu Mute, wo war er und was wollte er? Da hörte ich plötzlich einen lauten Knall. Ich erschrak mich fast zu Tode. Was war das? Es hatte sich angehört wie das Klirren von Glas. Ich erstarrte, aber trotzdem schaffte ich es irgendwie, nach meinem Telefon zu greifen und die Polizei anzurufen. Ich traute mich nicht mehr, aus dem Fenster zu schauen, und ich kauerte mich in die Ecke hinter den Vorhang. Würde Rainer hochkommen und mich umbringen? Tatsächlich hörte ich dumpfe Schritte auf der Treppe. Ich hielt die Luft an. Jemand betrat mein Schlafzimmer. Das Licht ging an.
„Gerda, komm raus. Ich weiß, dass du da bist!“ Es war Rainer. Ich war mir sicher, dass er mich finden und mich töten würde. Seine Schritte näherten sich dem Vorhang, im nächsten Moment würde er mich dahinter entdecken. Doch dann waren von Ferne Sirenen zu hören. Rainer verließ hastig das Zimmer. Er lief die Treppe herunter. Die Haustür schlug zu.
Ich atmete auf, schaute zum Fenster hinaus und sah wie er in sein Cabrio sprang und in Windeseile davonfuhr.
Er war weg. Ich konnte es nicht fassen. Nur wenige Minuten später war die Polizei da. Es stellte sich heraus, dass Rainer mein Wohnzimmerfenster zerschossen hatte. Er hatte genau in die Richtung geschossen, wo ich jeden Abend um diese Uhrzeit vor dem Fernseher saß. Wäre ich nicht hochgerannt, wäre ich jetzt tot.
Rainer wurde angezeigt, sein Gerichtsverfahren steht ihm noch bevor. Ich befürchte, dass er lediglich eine Bewährungsstrafe erhalten wird. Die Auflage, sich mir nicht zu nähern, würde er ohnehin nicht ernstnehmen.

Manchmal frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich mich damals nicht für meine Tochter, sondern für ihn entschieden hätte, wie er es gewollt hatte. Ich bin mir sicher, dass ich sehr unter der Trennung von meiner Tochter gelitten hätte. Darauf wäre es bestimmt hinausgelaufen, das hatte er doch beabsichtigt. Ich weiß, dass ich mit einer Person, die so etwas von mir verlangte, nicht hätte wirklich glücklich werden können. Wenn ich nicht so gehandelt hätte, wie er es wollte, hätte er mich vielleicht längst getötet.
Ich kann nicht weiter allein in meinem Haus leben. Fast jede Nacht träume ich von diesem schrecklichen Abend. Wie Rainer mich hinter dem Vorhang findet und mich erschießen will. Bevor er mich töten kann, bin ich bis jetzt immer schweißgebadet erwacht. Ich kann keine Nacht mehr ruhig schlafen. Auch tags verfolgt mich die Angst. Ich traue mich ohne Begleitung nicht, das Haus zu verlassen. Ich habe deshalb entschieden, aus meinem geliebten Haus wegzuziehen zu meiner Tochter. Rainer kennt ihre Adresse nicht. Ich wünsche mir, dass ich dann endlich wieder ein normales Leben führen kann. Ohne Angst.

Wie oft liest man in den Zeitungen, wenn ein unerklärlicher Mord passiert ist: Aber unser Nachbar war doch so ein netter Mensch, liebenswürdig, unauffällig.






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