Donnerstag, 16. März 2017

Der Meistersinger


„Du, Gerda, ich bin gestern Nachmittag am Großen Salon vorbeigekommen und fand euren Gesang sehr schön. Habt ihr neue Mitglieder?“
Johanna, Margret, Gerda und Elvira saßen bei Kaffee und Kuchen beisammen. Sie hatten einen Tisch an der Fensterfront der Cafeteria ergattert. Waren besonders früh, nämlich schon um halb drei aufgelaufen – sonntags war es immer so voll.
„Ja, zum Beispiel Frau Ewerwein, erst vor einem Monat eingezogen.“ Gerda war schon länger Mitglied der Gruppe, die sich am Samstagnachmittag der Volksmusik widmete. Loblieder kamen bei ihr sehr gut an. Das wusste Elvira, die neu in der Gruppe war und noch Boden gut machen musste.


„Ich bin gestern auch vorbeigekommen und mir hat besonders eine Männerstimme imponiert.“ Margret beugte sich zu Gerda hinüber.
„Das war dann sicher Walther von der Vogelweide.“
„Wie bitte?“  „Wie heißt der?“  „Soll wohl ein Witz sein?“ Drei erstaunte Ausrufe. Gerda lachte schallend.


„So nennen wir ihn, hinter seinem Rücken natürlich. Obwohl ich glaube, dass er eher geschmeichelt wäre als beleidigt.“
„Er liebt wohl Balladen?“ fragte die gebildete Johanna. Sie war einmal Bibliothekarin gewesen, ihre kurz geschnittenen weißen Haare wiesen sie noch immer als Intellektuelle aus.
„Ja, tatsächlich, aber er kommt selten zum Zuge. Wir haben es lieber leichter. So neu ist der aber nicht, gehört schon zu den Gründungsmitgliedern“, erklärte Gerda.
„Warum nennt ihr ihn denn so seltsam?“, fragte Elvira, man sah ihr an, dass der Name Walther von der Vogelweide ihr nicht so geläufig war.
„Ganz einfach – er hält sich für einen Meistersinger.“ Jetzt lachten alle vier.

Gerda und Johanna waren auf dem Weg vom Aufzug zu ihrer jeweiligen Wohnung auf der dritten Etage. Sie kamen vom Mittagessen. Johanna fragte:“ Wo wohnt eigentlich der Meistersinger?“
„Hier auf unserer Etage. Wir sehen ihn selten, weil er zu einer anderen Zeit zu Tisch geht.“
„Ach.“
„Was ist?“
„Bei mir am Tisch war die Rede davon, dass er Gesangsunterricht nehmen will.“
„Toll, das verbessert die Runde um einiges.“

Wieder mal saßen die vier Damen beieinander. Johanna und Margret waren sichtlich missgestimmt.
„Was ist los mit euch? Ist euch eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte Gerda.
„Wie macht sich eigentlich der Meistersinger in eurem Kreis?“, fragte Margret.
„Warum fragst du? Willst du von deiner schlechten Laune ablenken? Wir finden alle, dass er sich gesteigert hat. Es ist ein Genuss, ihm zuzuhören.“
„Walther von der Vogelweide war ein Minnesänger“, mischte Elvira sich ein. Sie hatte ihr Wissen erweitert, mit Hilfe von Google, wie sie freimütig gestand.
„Unserer auch, er tätschelt auch ganz gern mal seine jeweilige Sitznachbarin. Verbunden mit einem Kompliment, allerdings nicht in gesungener Form.“ Gerda plauderte aus der Schule. „Aber er hat sich wirklich gesteigert. Wir werden ihn sicher bald nur noch ‚Meistersinger‘ nennen, das hat er verdient.“ Gerda war ganz enthusiastisch.
„Auf Kosten seiner Nachbarn.“ Johanna äußerte sich mit grämlich verzogenem Mund.
„Wie meinst du das denn?“, fragte Elvira.
„Wie ich es sage.“
„Ich kann euch das erklären“, sagte Margret, wollte wohl die schlechte Stimmung nicht ausufern lassen. Sie holte tief Luft und fuhr fort:“ Er nimmt Gesangsunterricht.“
„Ja, das hat er anklingen lassen.“ Gerda.
„Aber das ist doch schön.“ Elvira.
„Nein.“ „Nein, ganz und gar nicht.“ Margret und Johanna.
„Also raus damit, was ist los?“ Gerda.
„Er hat sich irgendwoher ein Klavier kommen lassen und einen Gesangslehrer engagiert. Ihr wisst, wie dünn die Wände sind.“ Margret.
„Dreimal die Woche!“ Johanna. „110 Dezibel.“ Margret. „Entspricht dem Lärm einer Kettensäge!“ Johanna. „In der Wohnung.“ Margret.


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