Freitag, 11. Januar 2019

Was gibt's denn da zu tuscheln?


von Sophie Lange
„Am Wochenende können Sie nach Hause,“ versprach der junge Stationsarzt mir zum Ende der Visite. „Wirklich?“, fragte ich überrascht. Der Arzt grinste, wandte sich dem Assistenzarzt zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr und tuschelnd verließen die beiden das Krankenzimmer. Was gab es da zu flüstern? Da vermutet man doch direkt etwas, was man nicht wissen soll. Meine pessimistischen Gedanken will ich hier lieber nicht niederschreiben, vielleicht wollten die Götter in Weiß mich nur ein bisschen zum Narren halten. Wenn ich eines nicht leiden kann, dann ist es Getuschel. Hier sollen wohl Geheimnisse geheim bleiben.
Als ich zum ersten Mal mit meinem Rollator durch unsere Straße fuhr, glaubte ich, überall Getuschel zu hören. „Schau mal die Alte da, wie stolz sie auf ihren 'Mercedes' ist,“ meinte ich zu verstehen. Ob im Bus, bei einer Versammlung oder bei einer Familienfeier, überall wird getuschelt. Sogar beim Fußballspiel meinen Profis, sie müssten sich durch Flüstern hervortun und vorsichtshalber halten sie sich die Hand vor dem Mund, damit bloß niemand auf die Idee kommt, sich im Lippenlesen zu versuchen.
Neugierig bin ich, wenn Politiker sich gegenseitig etwas ins Ohr flüstern. Und die haben anscheinend andauernd etwas zu erzählen, was keinem normalen Bürger etwas angeht.
Um die Spannung zu steigern, wird gerne in einem Thriller eine Flüsterstimme eingefügt.

Ich muss gestehen, dass ich in jungen Jahren auch gerne getuschelt habe. Besonders in der Schule flüsterte ich hinter vorgehaltener Hand meiner Nachbarin stets etwas ins Öhrchen. Die Lehrerin reagierte immer ungehalten auf unsere Geheimniskrämerei! “Was gibt’s denn da zu tuscheln?“, dröhnte sie in die Klasse. Wir kicherten verhalten und konzentrierten uns wieder auf den Unterricht. Oder taten zumindest so.

Übrigens:
Ich wurde an dem angekündigten Wochenende tatsächlich aus dem Krankenhaus entlassen. Jetzt wüsste ich nur zu gerne, was die Ärzte als Kommentar getuschelt haben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.
Beide Links auf der Seite Datenschutz