Annerose hat das Bild noch genau vor Augen. Da stand der
Lehrer vor der Klasse, den Taktstock in der Hand. Alle Kinder, das waren in der
kleinen Dorfschule alle Klassen, wussten, was jetzt kam: Singen. Und schon
donnerte die sonore Lehrerstimme: „Aufstehen!“ Alle sprangen hoch und stellten
sich neben ihre Bank. Dann das nächste Kommando: „Grade stehen!“ Strammstehen
wie bei den Soldaten. So kann man besser atmen und hat mehr Kraft in der Stimme.
Das war zumindest die Meinung des Lehrers. Es war März und da kam nur ein Lied
in Frage. Die Großen schmetterten es laut und kräftig, die Kleinen sangen leise
und zaghaft mit:
Im Märzen der Bauer die Rösslein
einspannt,
er setzt seine Felder und Wiesen in
Stand.
er pflüget den Boden, er egget und
sät
und rührt seine Hände früh morgens
und spät.
Inzwischen sieht man in den Feldern keinen Bauern mehr mit seinen Rösslein. Selbst in der tiefsten Eifel nicht. Schwere Traktoren ackern durch flurbereinigte großflächige Felder. Kaum noch eine Hecke, kein Strauch steht im Weg. Und kein Vogel weit und breit.
Annerose ist ein Naturkind. Das sagt sie von sich selbst. Und
das bäuerliche Erbe ihrer frühen Vorfahren weckt im März das Verlangen in ihr,
irgendetwas zu säen. Jedoch sie hat kein Feld, keine Wiesen, keinen Garten,
aber immerhin einen Balkon. Und so hat sie vor Jahren Wildblumensamen in die
Kästen eingestreut. Schon bald sprossen kleine Hälmchen aus der Erde. Annerose
freute sich auf eine bunte Sommerpracht. Aber was dann kam waren Kratzdisteln,
stachelige Pflanzen, immerhin mit winzigen Blüten. Und dann wuchs noch etwas
anderes aus dem Wildblumensamen: Kopfsalat. Annerose schwört, dass es genau so
war. Knackige Salatköpfe als Wildblumen! Aber im Lauf der nächsten Wochen
streckten dann doch einige Blumen ihre Köpfchen aus der Erde: Kornblumen,
Klatschmohn, Margeriten, Malven, Glockenblumen, Schlüsselblumen. Aber im Großen
und Ganzen war das Ergebnis frustrierend.
Dieses Jahr will Annerose einen neuen Versuch starten. Denn
vor Tagen las sie eine Werbung: Balkonkasten – Pflegeleichte Sommerkinder. Eine
bunte Wildblumenwiese illustrierte das Angebot. Optimistisch streut sie jetzt
zum Frühlingsanfang - am Mittwoch, den 20. März - den Samen aus, dem man ja
nicht ansieht, was daraus wächst. Dazu dichtete sie:
Im Märzen die Frauen den Eimer nehmen
zur Hand,
sie bringen das Haus und den Garten
in Stand.
Sie wischen und wuseln, streuen
Blumensamen aus,
später leuchtet's und blüht' s dann
rund um das Haus.
Hoffen wir das Beste, liebe Leser.
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