von Sophie
Lange
Es gab nicht viele glückselige Momente in meiner Kindheit, in
der der Krieg dominierte. Aber an einen erinnere ich mich. Ich hatte meine
Kinderhand ausgestreckt und darauf war ein kleiner Käfer gelandet:
halbkugelförmig, schwarz. Er bewegte sich nicht. War er tot? „Wir müssen sein
Lied singen!“, sagte meine große Schwester, die mich beobachtete. Und so sangen
wir:
Maikäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer flieg.
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer flieg.
Und tatsächlich bewegte der kleine Käfer sich, spreizte seine
Flügel, wartete das Ende des Lieds ab, dann startete er in den Himmel, auf
Suche nach dem Vater im Krieg, nach der Mutter im Pommerland, nach der
verlorenen Heimat. Ein trauriges Liedchen.
Erst Jahrzehnte später versuchte ich die Hintergründe zu
diesem Lied aufzudecken und fand Fehler und Widersprüchlichkeiten. Zunächst ist
es nicht der Maikäfer mit schwarzem Kopf und braunen Flügeln, der vor allem in
Laubwäldern an Blättern knabbert, der hier besungen wird. Nein, es ist das
Marienkäferchen mit roten Deckflügeln und schwarzen sieben Punkten,
Siebenpunkt, ein Glückskäfer.
Wie alt die Verse sind, weiß man nicht. Man vermutet, dass
mit dem Krieg der dreißigjährige Krieg gemeint ist, in dem nicht nur Pommerland
(Pommern) abbrannte, sondern viele Länder in Flammen standen. Man sieht aber
auch viel frühere Bezüge, in dem das Land „Hollerland“ gemeint sein könnte, das
fruchtbar-gesegnete Land der dreieinigen Göttin Frau Holle. Dann wäre der Gott
Wodan der Vater, der in den Krieg zieht.
1781 wurde der Maikäfer-Reim mit der Melodie des Wiegenliedes
„Schlaf Kindchen schlaf“ (Johann Friedrich Reichhardt) unterlegt. Eine
beruhigendes Schlaflied, das allerdings kaum zu einem verstörenden Kriegslied
passt. Vor 1881 gibt es bereits ein Bild, auf dem ein Marienkäferchen auf der
Hand eines Kindes gelandet ist.
Bei einer Umfrage vor kurzem konnte man erstaunt feststellen,
wie bekannt auch heute noch der kleine Reim vom Maikäfer bei jung und alt ist.
Ich habe auch noch eine andere Erinnerung an meine Kindheit.
Ich hatte eine kleine Pappschachtel aufgetrieben und hatte diese mit frischem
Grün ausgepolstert. Im Deckel hatte ich einige Löcher geschnitten. Hier fand
ein Marienkäferchen, Heetzendierchen (Herzentierchen) wie wir es auch nannten,
seine Herberge oder vielmehr seinen Kerker. Jedes Kind besaß solche Kästchen,
und zeigte sie stolz umher. Doch irgendwie fand ich, dass das Käferchen traurig
aussah, einsam, von Gott und der Welt verlassen. So öffnete ich bald den
Deckel. Das Glückskäferchen spreizte seine Flügel und erlöst und frei flog es
in den blauen Himmel hinein, begleitet von meinem Singen:
Maikäfer flieg
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer flieg
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer flieg
Maikäfer flieg ... was haben wir sie geliebt, gehütet und getauscht! Heute würde ich sagen: die armen Viecher!
AntwortenLöschenIn kleinen Schachteln, auslegt mit -angeblich am besten- Blättern von der Buchenhecke: den Bäcker/Müller, den Schornsteinfeger - und den begehrten Königen und Kaisern.
Liebe Sophie - Erinnerungen werden wach... danke für die schöne Erinnerung - LG Gitta