Samstag, 27. Oktober 2018

und kam die goldene Herbsteszeit


von Sophie Lange



Es ist erstaunlich, wie Leute noch im hohen Alter ellenlange Gedichte herunterrasseln, die sie einst in der Schulzeit gelernt haben. In Familienfeiern rezitiert Onkel Franz-Josef mit Vorliebe „Die Bürgschaft“ von Friedrich von Schiller:

„Zu Dionys, dem Tyrannen schlich,

Damon, den Dolch im Gewande;

Ihn schlugen die Häscher in Bande.....

Und dann geht es ohne Stottern und Verweilen die ganze Ballade hindurch und das sind immerhin 20 Strophen. Die anderen hören fasziniert zu. Erst die letzten zwei Zeilen sprechen alle gemeinsam:

Ich sei, gewährt mir die Bitte,In eurem Bunde der dritte.

Jedes Jahr sagt die 80jährige Maria die dramatische schottische Ballade „Die Glocke von Innisfare“ von  Friedrich Halm (1806-1871)auf.

Weihnachtsabend, Fest der Kleinen,

wie sie harren auf dein Erscheinen,

wie mit freuderoten Wangen

jubelnd laut sie dich empfangen!


Auch hier jedes Mal Staunen über das perfekte Langzeitgedächtnis, das über 200 Zeilen ohne Stottern und mit gekonnter Vortragskunst auswendig aufsagt. 
Ein Gedicht, das alle kennen, alt und sogar jung, ist die Ballade von Theodor Fontane „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Für alle, die sich nicht so ganz sicher sind, ist sie hier wiedergegeben..



Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

von Theodor Fontane (1819-1898)

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

Ein Birnbaum in seinem Garten stand, 

Und kam die goldene Herbsteszeit

Und die Birnen leuchteten weit und breit,

Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,

Und kam in Pantinen ein Junge daher,

So rief er: „Junge, wiste 'ne Beer?“

Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.“



So ging es viele Jahre, bis lobesam

Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.

Er fühlte sein Ende, s'war Herbsteszeit,

Wieder lachten die Birnen weit und breit;

Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab,

Legt mir eine Birne mit ins Grab.“

Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,

Trugen von Ribbeck sie hinaus,

Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht

Sangen: „Jesus meine Zuversicht“,

Und die Kinder klagten, das Herze schwer:

„He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?“



So klagten die Kinder. Das war nicht recht

Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;

Der neue freilich, der knausert und spart,

Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.

Aber der alte, vorahnend schon

Und voll Misstrauen gegen den eigenen Sohn,

Der wusste genau, was damals er tat,

Als um eine Birne ins Grab er bat,

 Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus,

ein Birnbaumsprössling sprosst heraus.



Und die Jahre gehen wohl auf und ab,

Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,

Und in der goldenen Herbsteszeit

Leuchtet's wieder weit und breit.

Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,

So flüstert's im Baume: „Wiste 'ne Beer?“

Und kommt ein Mädel,so flüstert's „Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick gew di 'ne Birn.“



So spendet Segen noch immer die Hand

Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.







Übrigens:

Die Geschichte vom Birnbaum auf Ribbeck und der Fruchtbarkeit nach dem Tode war bereits vor Fontane schon in Verse gefasst worden und zwar 1875 von der Gräfin Hertha von Witzleben, der Enkelin des Herrn Karl Friedrich Ernst von Ribbeck. Fontane hat die Idee dann übernommen (um es freundlich auszudrücken).

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