von Sophie Lange
Es ist erstaunlich, wie Leute
noch im hohen Alter ellenlange Gedichte herunterrasseln, die
sie einst in der Schulzeit gelernt haben. In Familienfeiern rezitiert Onkel
Franz-Josef mit Vorliebe „Die Bürgschaft“ von Friedrich von Schiller:
„Zu Dionys, dem Tyrannen schlich,
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.....
Ihn schlugen die Häscher in Bande.....
Und dann geht es ohne Stottern und Verweilen die ganze Ballade hindurch und das sind immerhin 20 Strophen. Die anderen hören fasziniert zu. Erst die letzten zwei Zeilen sprechen alle gemeinsam:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,In eurem Bunde der dritte.
Jedes Jahr sagt die 80jährige
Maria die dramatische schottische Ballade „Die Glocke von Innisfare“ von Friedrich Halm (1806-1871)auf.
Weihnachtsabend, Fest der Kleinen,
wie sie harren auf dein Erscheinen,
wie mit freuderoten Wangen
jubelnd laut sie dich empfangen!
Ein Gedicht, das alle kennen, alt und sogar jung, ist die Ballade von Theodor Fontane „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Für alle, die sich nicht so ganz sicher sind, ist sie hier wiedergegeben..
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
von Theodor Fontane (1819-1898)
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wiste 'ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.“
So ging es viele Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende, s'war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab,
Legt mir eine Birne mit ins Grab.“
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen: „Jesus meine Zuversicht“,
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
„He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?“
So klagten die Kinder. Das war nicht recht
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Misstrauen gegen den eigenen Sohn,
Der wusste genau, was damals er tat,
Als um eine Birne ins Grab er bat,
Und im dritten
Jahr, aus dem stillen Haus,
ein Birnbaumsprössling sprosst heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: „Wiste 'ne Beer?“
Und kommt ein Mädel,so flüstert's „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew di 'ne Birn.“
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Übrigens:
Die Geschichte vom Birnbaum
auf Ribbeck und der Fruchtbarkeit nach dem Tode war bereits vor
Fontane schon in Verse gefasst worden und zwar 1875 von der Gräfin Hertha von
Witzleben, der Enkelin des Herrn Karl Friedrich Ernst von Ribbeck. Fontane hat
die Idee dann übernommen (um es freundlich
auszudrücken).
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