Freitag, 15. Februar 2019

Das verräterische Brötchen

von Anne Pöttgen

Das Telefon. Margret greift zum Hörer und meldet sich: „Ja …“
„Hallo Margret, guten Morgen, geht es dir nicht gut?“ Die mitfühlende Stimme von Johanna.
„Guten Morgen, Johanna, mir geht’s gut, warum fragst du?“
„Susanne rief mich gerade an und meinte …“
„Ja, was?“
„Sie hatte Angst, es könnte dir nicht gut gehen – sie war auf unserer Etage unterwegs und hat gesehen …“
„Was?“
„Dein Brötchen liegt noch vor deiner Tür.“
„Ja, stimmt, muss ich gleich reinholen. Danke der Nachfrage und danke für den Hinweis.“
„Kannst du nicht eben Susanne anrufen und ihr sagen, dass alles in Ordnung ist. Dann muss ich das nicht tun.“
„In Ordnung, mach ich – wenn ich das Brötchen reingeholt habe. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kommt, mir ginge es nicht gut, nur weil das Brötchen …“
Margret will nicht nur das Brötchen reinholen, sie fährt auch runter zum Briefkasten, um die Zeitung rauf zu holen, notwendige Zutat zum Brötchenfrühstück. Neben ihr steht Frau Müller, betrachtet sie und sagt: „Haben Sie sich wieder erholt? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“
„Sorgen?“
„Ja, Frau Meier meinte, Sie holten Ihr Brötchen sonst schon um halb neun rein und heute …“
Margret ahnte, dass das halbe Haus wissen würde, dass sie erst um halb zehn aufgestanden war. Denn Frau Müller war ebenso wie Frau Meier dafür bekannt, dass sie Neuigkeiten im Blitztempo verbreiten konnte. Die Frage nach ihrem Wohlergehen war nur vorgeschoben, um anschließend anzudeuten, man selbst stehe ja schon um halb acht auf. Da musste sie gegensteuern.
„Ich hatte doch leider wieder so einen scheußlichen Migräneanfall. Aber das ist doch nicht der Rede wert. Wenn ich erst einmal Kaffee getrunken und mein Brötchen gegessen habe …“
„Migräne? Ach, das kenne ich auch. Linksseitig oder rechtsseitig?“
Gott sei Dank musste Margret nicht antworten, denn Frau Müller fand es anscheinend großartig, mal wieder über ihre Migräne berichten zu können. Margret trat von einem Fuß auf den andern, musste aber Anteilnahme zeigen, um nicht weiteren Stoff für üble Nachrede zu liefern. Endlich der rettende Gedanke: „Ach, Frau Müller, entschuldigen Sie meine Eile, aber mein Tee …“ Oh, je, sie hatte Tee gesagt, dabei war doch von Kaffee die Rede gewesen.
„Tee? Sie trinken Tee bei Migräne? Ganz falsch!“ Anscheinend hatte Frau Müller nicht mitgekriegt, dass Margret eben selbst von Kaffee gesprochen hatte, denn sie wusste ja, dass bei Migräne nur Kaffee half. Aber wenn sie keine Migräne hatte, wie heute, dann trank sie Tee. Nun also ein Einschub über Migräne und Kaffee, gefühlt eine halbe Stunde. Währenddessen überprüfte Margret in Gedanken ihr Aussehen: Haare gekämmt, die guten Hausschuhe an den Füßen, war da noch der Sahnefleck auf dem Oberteil?
„Danke, liebe Frau Müller, für den Hinweis, aber jetzt muss ich wirklich, es zieht hier unten so schrecklich.“ Frau Müllers Blick streifte über Margrets Gestalt. „Ach, ja, Sie sind noch im Hausanzug.“ Pause. „Ich für mein Teil lege Wert darauf, mich erst einmal fertig zu machen, ehe ich aus der Tür gehe. Aber nichts für ungut – jeder wie er möchte. Margret schwante, dass Frau Müller sie bei Frau Meier fertigmachen würde …

Im Aufzug ärgerte sie sich über sich selbst, dass es ihr nicht gleichgültig war, was andere über ihre Schlafgewohnheiten tratschten. Ich bin immerhin achtzig plus, wohne in einer Seniorenanlage, um es bequem zu haben, gehe gern spät ins Bett, lese ebenso gern noch ein Weilchen, da kann es doch mal spät werden – schließlich kann ich morgens ausschlafen. Im Takt schlug sie mit ihrer Zeitung gegen die Wand des Aufzugs. Der schwieg zustimmend.
 In ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, griff sich Margret die Brötchentüte, die immer noch vor ihrer Wohnungstür ausharrte und fragte sich natürlich, wer noch alles im Vorbeigehen von ihren Schlafgewohnheiten Kenntnis erhalten hatte. „Es gibt Schlimmeres,“ dachte sie dann noch, ehe sie sich über Brötchen, nochmal frisch gebrühten Tee und Zeitung her machte, um den Tag wie üblich zu beginnen.

Am Mittagstisch, Punkt zwölf Uhr, schien ihre Tischnachbarin, Frau Eberle, mit sich zu ringen, ob sie über den üblichen Gruß hinaus noch etwas sagen sollte. Das endete so: “Sie machen ja Sachen.“
„Sachen, wie denn, was denn?“, fragte Margret ohne Arg.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, ich habe gehört, dass sich die ambulante Pflege um sie kümmern musste. Haben die Ihnen denn helfen können?“
„Ambulante Pflege? Mir helfen können? Nö.“
„Nein, nicht? So schlimm? Sie sehen aber gar nicht so krank aus.“
„Ich bin auch nicht krank, mir muss niemand helfen, und von der ambulanten Pflege habe ich niemanden gesehen. Gerüchteküche.“
„Ach?!?“
„Guten Appetit, Frau Eberle.“
„Guten Appetit.“ Ein bisschen kurz, fast schon gekränkt. Um eine Sensation ärmer.

Zum Kaffeetrinken am Nachmittag kommt Margret zu spät. Acht Augen starren ihr entgegen. Aus vier Mündern:
 „Wie geht’s dir denn, du Arme?“
„Siehst aber schon besser aus.“
„Was hatte dich denn erwischt?“
„Warum hast du denn Susanne nicht angerufen? Ich hatte dich doch darum gebeten! Sie hat sich bis eben Sorgen gemacht!“ Johanna sah ein klein wenig erbost aus, strich sich energisch die weißen Haare nach hinten.
Margret ließ sich auf dem letzten freien Platz nieder. „Mir geht es blendend, ich danke euch für eure Anteilnahme. Ab morgen wird alles anders."
 Ich bestell das Brötchen wieder ab, dachte sie.






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